Jetzt wäre ich gerne unsichtbar
Das persönliche Selbstbewusstsein baut sich nicht nach der Logik des eigenen Ichs auf, sondern es versichert sich seiner durch die Wertungen Dritter.
Text: Karin Jirku
Schulden, Scheidung, prekäre Beschädigungsverhältnisse und ein fehlendes soziales Sicherheitsnetz: Schon schnappt die Armutsfalle zu. Unsere Gesellschaft akzeptiert keine Schwäche. Armut bleibt meist versteckt. Die, die betroffen sind, sollen sich für ihre Existenz am Existenzminimum schämen.
Scham.
Neben Furcht und Liebe existiert kaum ein Gefühl, das derart fest in unseren Körpern verhaftet ist wie Scham. Es treibt uns die „Schamesröte“ ins Gesicht, wenn etwas peinlich ist. Werden wir öffentlich bloßgestellt, wollen wir uns verkriechen.
Das persönliche Selbstbewusstsein baut sich nicht nach der Logik des eigenen Ichs auf, sondern es „versichert sich seiner durch die Wertungen Dritter“, so der deutsche Soziologe Sighard Neckel.
Armut presst die Betroffenen in eine Schablone und zwingt ihnen eine Identität auf. Scham ist das heimlichste Gefühl in unserem Repertoire der Emotionen, und doch zwingt der Staat einen Teil unserer Gesellschaft, einen öffentlichen Seelenstriptease hinzulegen.
Zur Schaustellung der Armut.
Die Schuld am Zustand der Armut wird bei den Betroffenen selbst gesucht: „Eigenverantwortung“ nennt das unsere Gesellschaft. Für eine Lösung des Problems finden sich kaum Ansätze. Es sind beschämende Bedarfsprüfungen, die ein Mensch, der unter dem Existenzminimum lebt, über sich ergehen lassen muss, bevor ihm Sozialhilfe zugesprochen wird. Die fehlende Krankenversicherung und mangelnde Rechtssicherheit tun ihr Übriges. Ein Mensch, der in Armut lebt, ist gezwungen, seine materiellen Interessen gegen seinen Anspruch auf persönliche Selbstachtung auszuspielen.
Die hohe Nichtinanspruchnahme der staatlichen Maßnahmen gegen Armut sprechen Bände: Die Armutsfalle ist beschämend. Und die Beschämung einer Person ist die einfachste Form, sich ihrer zu bemächtigen. Denn Beschämung schwächt. Das Gefühl, beim AMS oder am Sozialamt ein Bittsteller von vielen zu sein, bedeutet, das Gesicht zu verlieren, das eigene Ansehen bedroht zu sehen, die eigenen Fähigkeiten nicht ausdrücken zu dürfen.
Armut trotz Arbeit. Eine zentrale Instanz der Verteilung von Status in unserer modernen Gesellscha stellt der Arbeitsmarkt dar. Hier erfahren wir Anerkennung und Achtung von unseren Mitmenschen, die „ganze Person“ – das Aussehen, die Eigenschaften – ist im Schaufenster der Öffentlichkeit ausgestellt und muss eine Bewertung über sich ergehen lassen. „Die gesellschaliche Prestigeskala belohnt nur Erfolg“, so Neckel. Fällt man aus dem System einmal heraus, droht Subalternität. Und diese kann das soziale Wertgefühl einer Person nachhaltig schwer beschädigen. Doch Arbeit schützt vor Armut nicht.
Immer mehr Menschen arbeiten und haben trotzdem nicht genug zum Leben. Ein fixer Job, der nicht befristet ist, ist zu einem seltenen Luxusgut geworden. Die Realität stellt untypische Beschäigungsformen dar, wie Teilzeit, Zeitarbeit oder Freelance- eine soziale Absicherung für ArbeitnehmerInnen exklusive. Geringfügig Beschäftigte bzw. Beschäftigte mit einem freien Dienstvertrag oder Werkvertrag hatten bislang keinen Anspruch auf Arbeitslosenversicherung. Solche Arbeitsverhältnisse produzieren „Working Poor“, Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben können. Diese Gruppe zählt zu der am stärksten wachsenden Gruppe im Sozialhilfebereich.
Lohn als moralische Komponente.
Wird einem Menschen keine soziale Anerkennung für seine Arbeit oder eben für seine Bedürftigkeit entgegengebracht, dann wirkt Armut stigmatisierend. Lohn hat auch eine moralische Komponente, diese These hat schon Karl Marx geprägt. In unserer modernen Gesellschaft müssen Personen, die um ihre Existenz kämpfen müssen, immer noch ihre eigene Schwäche taxieren lassen, um Hilfe erwarten zu können.
Armut is geschaffen.
Armut fällt nicht einfach so vom Himmel. Sie ist im Laufe der Geschichte geschaffen worden. Bereits in der Schule lernen wir, wie unsere Produktionskultur abläuft, und dort werden unsere zukünftigen Rollen, Chancen und Identitäten festgelegt. Wer Karriere machen wird oder die Hilfsarbeiterjobs bekommt, ist oft schon im Alter von zehn Jahren klar. Armut ist ein Mangel an Verwirklichungschancen ihrer Betroffenen und ein Verlust an substantiellen Freiheiten. Wer arm ist, ist nicht frei. Unser Leben wird beinahe vollständig von wirtschaftlichen Sachzwängen bestimmt.
Das Problem der Verarmung wächst mit ihrer Dauer. Armut bekommt Zinsen mit einem Minus davor: Die Schulden vermehren sich, die Abhängigkeit steigt. Im Alltag hilfsbedürftiger Menschen existiert keine Armutsgrenze. Betroffene erleben Armut als Lebenslage des Mangels: Armut heißt Mangel an Möglichkeiten. In den zentralen gesellschaftlichen Bereichen kann nicht einmal mehr im Mindestmaß teilgenommen werden. Wohnen, Gesundheit,
Arbeitsmarkt, Sozialkontakte, Bildung: Alles avanciert von der Selbstverständlichkeit zum Luxus.
Lohn der Armut.
Armut führt zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft. Der Sozialstaat dividiert Arme und Arbeitslose auseinander. Die Arbeitslosen werden mit der Drohung Armut diszipliniert. Die, die nichts mehr haben, werden als „unbrauchbar und wertlos“ disqualifiziert. Betroffene investieren viel Energie in die Bewältigung ihres Alltags und in das Verheimlichen ihrer beschämenden Situation. Das bleibt nicht folgenlos: Armut macht krank. Fallen Betroffene aus ihren sozialen Netzen heraus, dann droht Einsamkeit, gepaart mit dem Gefühl von Ohnmacht und Beschämung. Oft bleiben am Ende gar keine Freunde mehr, weil die Teilhabe am alltäglichen Leben wegfällt.
Versagen Staatlicher Fürsorge.
Die primäre Aufgabe eines Staates sollte sein, für ein menschenwürdiges Dasein zu sorgen. Nur wer vertritt die Interessen der von Armut Betroffenen? Im modernen Sozialstaat ist die öffentliche Sozialhilfe die zuständige Instanz der Armutsbearbeitung. Im Sozialamt wird die individuelle Bedürftigkeit eines Menschen in anerkannte Armut übersetzt. Dabei handelt es sich um einen sozialen Konstruktionsprozess, an dem die Sozialarbeiter und ihre Klientel gleichermaßen beteiligt sind. Menschen, die in Armut leben, stehen hierbei vor der Aufgabe, aus einer strukturell schwachen Position heraus Strategien zu finden, Unterstützungsleistungen zu erhalten.
Interessenvertreter gesucht.
Sozialämter sind Hilfseinrichtungen, die mit sichtbaren Symbolen der Macht spielen. Diese Einrichtungen verkörpern und materialisieren die Lücke zwischen denen, die haben und denen, die nicht haben, zwischen denen, die geben und denen, die nehmen, zwischen denen, die kontrollieren und denen, die Hilfe erhalten. Sozialämter haben also einen klaren politischen Auftrag. Dieser lautet jedoch immer öfter „sparen“. In der neoliberalen Wettbewerbswirtschaft gerät der Sozialstaat unter die Räder.
In den Medien ist täglich nachzulesen, dass wir uns den Sozialstaat nicht mehr leisten können. Dieser Schwindel funktioniert, weil die Arbeitgeber ihre Interessen als die der Allgemeinheit verkaufen können. Geht es der Wirtschaft gut, geht es uns allen gut. Oder? Von Armut Betroffene haben in der Regel kaum Möglichkeiten, sich öffentlich zu artikulieren. Netzwerke wie Arbeitsloseninitiativen oder die Armutskonferenz arbeiten dem von unten entgegen.
Karin Jirku studiert Journalismus an der FH in Wien.