Politik von morgen
Liebling der Massen
Partizipation bringt nicht grundsätzlich mehr Demokratie, sagt Brigitte Geißel. Die Citizenshipforscherin über Zynismen der demokratischen Ordnung, politische Trends und die Chance der NGOs.
Interview: Cathren Müller, Bild: WZB, David Ausserhofer
Wenn weniger Leute wählen gehen, ist das Politikverdrossenheit?
Nein, denn an ihrem Gemeinwesen haben die Leute schon noch Interesse. Sie haben aber kein Vertrauen mehr, dass ihre Interessen von den Repräsentanten vertreten werden. Insofern funktioniert die klassische Idee der repräsentativen Demokratie nicht mehr. Das ist eine allgemeine Entwicklung.
Als die Familie Zogaj abgeschoben werden sollte, konnte das auch der vereinte Protest ihres Heimatortes nicht verhindern. Woran scheitert die Zivilgesellschaft?
Wenn eine Gruppe organisatorisch oder medial zu schwach ist, kann sie sich nicht durchsetzen. Und um diesen Kampf aufzulösen, muss man es zu einem größeren Thema machen und die ganze Gesellschaft einbeziehen. Das ginge über direktdemokratische Verfahren, dann würde auch klar, ob nur eine Interessengruppe etwas durchsetzen will oder ob es ein Anliegen der gesamten Bevölkerung ist. Es ist unbefriedigend, wenn Anliegen an Repräsentanten adressiert werden, aber nichts erreichen. Andererseits kann man es auch nicht einfach Interessengruppen überlassen, darüber zu entscheiden, was passiert.
Im Fall von Familie Zogaj würde also die Bevölkerung entscheiden, wer bleiben darf? Haben direktdemokratische Verfahren immer etwas Zynisches?
Absolut. Ja, es ist zynisch, denn die Betroffenen können nicht mitbestimmen. Man könnte natürlich direktdemokratische Verfahren von der Wahlberechtigung entkoppeln und alle Stakeholder einbeziehen. Das ist aber kompliziert, weil Demokratien territorial aufgebaut sind, was in der heutigen Welt wenig Sinn macht. Aber da sind Politik und Politikwissenscha" noch nicht so weit. Solche Menschen, und das ist extrem traurig, werden das Opfer eines alten Konzepts von Demokratie.
Wenn die etablierte Politik kaum reagiert,was hat sie von engagierten BürgerInnen?
Sie holt zivilgesellscha"liche Gruppen als Experten, weil sie ihre Expertise verbreitern und sich legitimieren will. Und sie ho&, dass durch Einbeziehung vieler Beteiligter die Umsetzung von Gesetzen und Regeln leichter ist.
Demnach müssten NGOs doch eine größere Rolle spielen? Oder ist die repräsentative Demokratie ohnehin schon tot?
Die Entscheidungen werden ja nach wie vor von den gewählten Repräsentanten in den Parlamenten gefällt. Insofern ist die repräsentative Demokratie nicht tot. Die Frage ist, wie man den Zugang der Experten zu den Parlamentariern besser reguliert. Zumindest müssen sich Experten und Lobbygruppen im Deutschen Bundestag akkreditieren lassen und offen legen, welche Ideen sie vertreten, woher sie ihre Gelder bekommen usw. Auch die EU-Kommission, die ja versucht, zivilgesellschaftliche Gruppen stärker einzubeziehen, will das Ganze transparenter machen. Bisher mit mäßigem Erfolg.
Sie arbeiten zu neuen Formen der Governance. Können Sie eine bestimmte Richtung ausmachen?
Es gibt einiges Neues. Direktdemokratie wird derzeit von vielen Ländern eingeführt, zumindest auf lokaler Ebene. Es gibt neue Konsultationsverfahren, die Agenda 21 oder die dänischen Konsensuskonferenzen. Da tut sich viel. Es kommt aber immer auf das Design an. Bei einer Citizen Jury sagt man, alle, die kommen wollen, sollen kommen und mitentscheiden. Auf diese Weise kommen natürlich die, die immer kommen. Also Mittelklassemänner mit guter Bildung. Eine Auswahl nach einem sozialen Schlüssel der Community könnte das verhindern. So würden dann Frauen dabei sein oder auch Migranten. Partizipative Verfahren sind nicht automatisch demokratischer, wenn ein großer Teil der jeweiligen Bevölkerung ausgeschlossen wird.
Wäre es ein Schritt der Demokratisierung, Repräsentation durch Partizipation zu ersetzen?
So einfach ist das nicht. Denken Sie an das
Problem der Information. Was kommt heraus, wenn die Leute vor einer Abstimmung nicht die Gelegenheit hatten, sich vernünftig zu informieren? Man weiß, dass nach Serienmorden mehr Leute für die Todesstrafe sind. Es macht ganz sicher keinen Sinn zu sagen, so, wir machen alles nur noch deliberativ in Kleingruppen. Aber es wird sich in Zukun" einiges verändern. Das ist normal in der Geschichte der Demokratie. Es sind jedoch alles langwierige Prozesse, die auch von NGOs angestoßen werden. Auch solche Fälle wie die Flüchtlingsfamilie machen bewusst, dass die heutige Form der territorialen, repräsentativen Demokratie nicht der Weisheit letzter Schluss ist.
Meinen Sie, es gibt so viele sich widersprechende Interessen, dass die Demokratie sich wandeln muss und demokratischer wird? Aktuelle Sicherheitspolitiken sprechen dagegen.
Klar. Es gibt immer Pendelbewegungen. Jetzt erleben wir in der Sicherheitspolitik die autoritären Tendenzen. Es gibt aber auch Widerspruch in der Zivilgesellscha" und einen großen Wunsch, mitzubestimmen. Es werden immer mehr Menschen, die sich engagieren.
Gibt es diesen Wunsch auch bei der so genannten „Unterschicht“?
Archon Fung von der Harvard University hat eine Initiative in Chicago untersucht, wo die Leute mit der Polizei über deren Prioritäten entscheiden sollten. Fung stellte fest, dass gerade die armen Nachbarscha"en daran interessiert waren. Um die soziale Sicherheit zu erhöhen, wollten sie mit der Polizei zusammenarbeiten. Sie haben sich engagiert, weil sie gesehen haben, dass ihr Engagement ihre Lebensumstände verbessern kann. Nur wer keine Verbindung zwischen dem, was zur Disposition steht und dem eigenen Leben herstellen kann, beteiligt sich nicht. Gerade deshalb bin ich dafür, die Bevölkerung schon beim Agenda-Setting einzubinden, damit jene Themen behandelt werden, die für sie wichtig sind.
Wie können eigentlich NGOs ihre Basis so verbreitern, dass sie Druck auf die Politik ausüben können?
Für NGOs, die den Interessen der Bevölkerung entsprechen, ist es o" gar nicht schwer, Vertrauen und Legitimität zu erlangen. Das Vertrauen in Greenpeace ist größer als das in Parteien. Ich glaube NGOs sind sehr erfolgreich darin, die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen.
Umweltschutz ist vergleichsweise unverfänglich. Bei Flüchtlingen ist das anders.
Es gibt immer Gegeninteressen. Bei Migration fühlen sich viele Gruppen in der Bevölkerung angegriffen. Es dauert sicher lange, bis Menschen sehen, dass Diversität auch etwas Gutes ist. Es wird auch keinen Sinn haben, Interessen durchzusetzen, die ein großer Teil der Bevölkerung noch nicht hat.
Muss man einfach anerkennen, dass manche Ideen nicht konsensfähig sind?
Nein, denn das kann sich auch wieder ändern. In den 70er Jahren hat sich niemand für Umweltschutz interessiert. Was jetzt als irrelevant oder bedrohlich betrachtet wird, kann in 20 Jahren konsensfähig sein.
Zur Person
Professor Brigitte Geißel lehrt Politkwissenschaft an der TU Darmstadt. Sie hat sich2007 an der Philipps Universität Marburg mit der Arbeit "Politische Kritik-Gefahr oder Ressource für Demokratien" halbiert. Im Wissenschaftszentrum Berlin forschte sie über "zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobiliesierung in Europa".