Die Angst der Fundamentalisten
Der Islam erstarkt keineswegs, sondern verliert in muslimischen Gesellschaften unweigerlich an Einfluss. Wie Alphabetisierung, Frauenrechte und die Kleinfamilie der islamischen Welt letztlich eine europäische Entwicklung bescheren, führen die Demographen Emmanuel Todd und Youssef Courbage in ihrem Buch „Die unaufhaltsame Revolution“ aus. Text: Maria Sterkl
Wenn in der Schweiz Minarette verboten werden und in Wien „Moschee adé“ skandiert wird, wenn sich die österreichische Innenministerin wegen der Burka hinter dem Lenkrad sorgt, dann wissen wir: In unserer Gesellschaft bröselt es. Mittlerweile muss man nicht mehr die „Krone“ abonniert oder Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“ gelesen haben, um der Welt eine „schleichende Islamisierung“ zu diagnostizieren. Diesem Befund zu widersprechen, das wagen weder Gut-, noch Schlecht-, noch Egalmenschen. Man sieht es ja und hört es allerorten: Die Töchter tragen wieder Kopftuch, die Mütter bleiben wieder zuhause, und so mancher Vater warnt die US-Behörden vor dem eigenen Sohn. Kurzum: Der Islam gewinnt an Macht.
Unordnung, kein Erstarken
Stimmt nicht!, werfen dieser Sicht der Historiker Emmanuel Todd und der Bevölkerungswissenschafter Youssef Courbage entgegen: Der Glaube verliert in der islamischen Welt vielmehr an Einfluss. Den Ursachen dafür gehen Todd und Courbage in ihrem groß angelegten Werk „Die unaufhaltsame Revolution. Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern.“ nach. In Frankreich erschien das Buch bereits vor zweieinhalb Jahren unter dem klar auf Huntingtons „Kampf der Kulturen“ verweisenden Titel „Le rendez-vous des civilisations“ – die Begegnung der Kulturen. Eine der Kernthesen von Todd und Courbage: Es gibt weder eine wachsende Kluft noch wird es einen weltweiten Krieg zwischen islamischer und nicht-islamischer Welt geben, denn: im Grund bewegen sich alle Gesellschaften der Welt, egal ob muslimisch oder nicht-muslimisch, langfristig in dieselbe Richtung. Sie modernisieren sich. Wesentliche Merkmale dieser Modernisierung sind Geburtenschwund, Überalterung der Gesellschaft, Alphabetisierung, das Entstehen von Kleinfamilien. Eine ähnliche Entwicklung also, wie sie auch Europa durchlebt hat. Damit ist auch der Rahmen der Untersuchung von „Die unaufhaltsame Revolution“ gesteckt: Todd und Courbage gehen nicht von den zumeist üblichen historischen Analysen aus, mit denen insbesondere die arabischen Gesellschaften so gerne erklärt werden, sondern von der Demographie als zentraler Kategorie. Aus deren Entwicklungen und Eckdaten leiten sie die konstatierte Modernisierung muslimischer Gesellschaften ab und fügen gleich hinzu, dass gerade daraus eine Unordnung ausgelöst wurde, die bis in den partikularen Terrorismus ausfranst.
Zukunft: Muslimische Kleinfamilie
Für die Modernisierung in den islamischen Ländern finden Todd und Courbage vielfältige Belege. So nehmen die Geburtenraten in der islamischen Welt seit rund 30 Jahren stark ab. Iranische und tunesische Frauen bringen heute im Schnitt genauso viele Kinder auf die Welt wie Französinnen. Während im Jahr 1985 jede Frau in Saudi-Arabien im Schnitt 8,45 Kinder gebar, waren es zwanzig Jahre später nur noch 3,61 Kinder. Das ist zwar immer noch doppelt so viel wie in Mitteleuropa. Langfristig würden sich die Niveaus jedoch angleichen, sind die Autoren überzeugt. Dass Menschen beginnen, mit der langen Tradition der Acht-Kind-Familie zu brechen, sei vor allem auf einen Faktor zurückzuführen: die Alphabetisierung der Frauen. Nichts bringe junge Menschen stärker davon ab, sich fortzupflanzen, als Bildung. Mit eindrucksvollen Statistiken belegen Todd und Courbage, wie das allmähliche Durchsickern von Schreib- und Lesefähigkeiten bei Frauen sich in einem meist zwanzigjährigen Abstand in einem deutlichen Absacken der Geburtenraten niederschlägt. Damit es jedoch erst soweit kommen kann, brauche es ein gewisses Maß an Säkularisierung: Zwar steht der Islam Verhütungsmethoden weniger feindlich gegenüber als die katholische Kirche. Dennoch wird auch hier Fortpflanzung propagiert. Wer also beginnt, dem Kinderreichtum den Rücken zu kehren, wende sich damit zumindest ein Stück weit auch von muslimischer Frömmigkeit ab.
Nachhall der Modernisierung
Wie kommt es dann, dass gerade im letzten Jahrzehnt islamistische Bewegungen wieder im Aufwind waren? Dass „Fundamentalismus und Gewalt in der muslimischen Welt ein beachtliches Ausmaß erreicht haben“, streiten auch die Autoren nicht ab. Anders als in gängigen Analysen sehen sie darin jedoch kein Zeichen einer generellen Re-Islamisierung. Im Gegenteil: „Fundamentalismus ist nur ein vorübergehender Aspekt eines in Bedrängnis geratenen Glaubens“, heißt es im Buch. Dort, wo die demografische Erneuerung abgeschlossen ist, sei das Erwachen fundamentalistischer Bewegungen höchstens ein Nachhall der Modernisierung. Dort hingegen, wo ein deutliches Absinken der Geburtenraten noch aussteht, sei weiterhin mit Gewaltausbrüchen zu rechnen: So liege Pakistan mit seinen 165 Millionen Einwohnern, mit Geburtenraten von 4,6 Kindern pro Frau im Jahr 2005, immer noch weit hinter den arabischen Ländern (mit Ausnahme Jemens).
Überhaupt sei Pakistan „eine tickende demografische Zeitbombe“. Der schonende Umgang der US-Außenpolitik mit dem Staat sei daher „leichtsinnig und verantwortungslos“. Denn für die Autoren ist klar: Der Iran biete keinen Grund zur Sorge. Zu gebildet sei die Bevölkerung, zu mündig seien – trotz aller Repression – die dort lebenden Frauen. Hingegen stehe eine grundlegende Modernisierung in Pakistan, wo die Hälfte der Ehen innerhalb der Großfamilie geschlossen wird, wo immer noch mehrere Kinder gezeugt werden, um für die Weitergabe des Erbes an einen männlichen Nachkommen zu sichern, noch weiter aus. Eine ideologische Krise, die mit einem drastischen demografischen Wandel fast immer einhergeht, sei zu erwarten – und mit Sicherheit, so die Autoren, werde die Krise „durch den Islamismus bestimmt werden“.
Damit soll aber nicht gesagt werden, dass die Rückständigkeit Pakistans religiös bedingt sei: Eher liege es daran, „dass die Frauen in der gesamten Region den weltweit niedrigsten Status haben“. Auch im hinduistisch geprägten Nordosten Indiens würden Mädchen zu Hause eingesperrt, vernachlässigt, an der Ausbildung gehindert. Was die Kindersterblichkeit betrifft, sei diese im nordindischen Punjab doppelt so hoch wie die der Buben.
Regionale Unterschiede
Der auch in österreichischen Wahlkämpfen gerne propagierte Befund, Islam und Frauenrechte seien unvereinbar, relativiert sich somit in Todds und Courbages Untersuchung. Zwar stimme es, dass der Koran weiblichen Nachkommen nur halb so viel Erbe zuspricht wie männlichen – doch diese Vorschrift werde praktisch in keiner Region der Welt mehr beachtet. Je nachdem, wohin man blicke, legten muslimische Familien diese Vorschrift deutlich nach regionalen Traditionen aus. Also, erheblich strenger, wie bei vielen sunnitischen Arabern, die lieber Cousins erben lassen als die eigenen Töchter. Oder viel lockerer, wie in indonesischen oder malaysischen Familien, wo Töchter eher bevorzugt werden. Fazit: Dort, wo schon vor der Islamisierung patriarchale Strukturen vorherrschten – also im Zentrum der arabischen Welt wie Saudi-Arabien, taten sie das auch danach. Und dort, wo Frauen Männern tendenziell gleichgestellt waren, änderte sich auch durch die Islamisierung wenig daran. Es sei denn, sie erfolgte durch arabische Eroberungszüge: Dort aber, wo sich der Islam durch Wirtschaftsbeziehungen ausbreitete, hielt sich auch die matrilineare Form der Gütervererbung.
Viel Raum widmen die Autoren den Ursachen darüber, warum der demografische Wandel in manchen Ländern sehr früh einsetzte, während er in anderen noch gar nicht begonnen hat. Fest steht: Das Ausmaß der Alphabetisierung ist zwar ein wichtiger Faktor, aber bei weitem nicht der einzige. Den Autoren ist es ein Anliegen, weitere Einflüsse herauszuarbeiten – um damit zu beweisen, dass die Religion nur ein Aspekt von vielen ist, wenn es darum geht, wie modern eine Gesellschaft ist. In Erdöl exportierenden Ländern orten Todd und Courbage schlicht den sinkenden Ölpreis als einen Auslöser, der Familien bewogen hat, weniger Kinder zu bekommen. In anderen Staaten wie etwa Marokko war es der Einfluss der Exil-MarokkanerInnen in Europa, der den Menschen das Leben ohne Kinderreichtum schmackhaft machte. Wieder andere muslimische Länder entzogen sich dem den Kindersegen mindernden Einfluss der Bildung. Malaysia gilt als Sonderfall, der „Kampf der Wiegen“ hat dort tatsächlich stattgefunden. Allerdings nicht, um dem „christlichen Westen“ etwas entgegen zu setzen – sondern als Kampfmittel gegen die chinesische Elite im eigenen Land.
In einem gleichen sich christlich-europäische und islamische Staaten übrigens völlig: In beiden Weltgegenden wurden junge Frauen erst im Schnitt um zwanzig Jahre später alphabetisiert als Männer. Die westliche Welt zeigt vor: Gib Frauen Bildung, und sie lassen sich scheiden. Die weibliche Hälfte der Bevölkerung unmündig zu halten, ist patriarchalen Staatsregierungen pure Selbstverteidigung. Man wird sehen, wie lange sie damit noch durchkommen: Glaubt man Todd und Courbage, ist es nur eine Frage der Zeit.
Die unaufhaltsame Revolution.
Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern.
Von Youssef Courbage und Emmanuel Todd.
Piper Verlag 2008, München.
Die Autoren:
Emmanuel Todd, geboren 1951, studierte Geschichte und Anthropologie am Institut d'Etudes Politiques de Paris und promovierte in Cambridge. 1976 sagte er in seinem Buch »La Chute Finale« den Zusammenbruch der Sowjetunion voraus. Sein Buch »Weltmacht USA – Ein Nachruf« (2002) wurde zum Bestseller.
Youssef Courbage, geboren 1946 in Aleppo (Syrien), ist Forschungsdirekor am Institut Noational d’Études Démographiques in Paris. Er war als Berater für verschiedene internationale Institutionen wie die Unesco, die Europäische Union und den Europa-Rat tätig