Der Sieg der Traditionalisten
In der Schweiz gibt es nur vier Minarette, dennoch stimmte die Bevölkerung für ein Verbot. Der Soziologe Jörg Stolz führt das auf „Traditionalismus“ zurück. Er erklärt, wie Angst vor Veränderungen, soziale Klasse und das unbekannte Fremde zum Sieg der Traditionalisten führten. Interview: Cathren Müller. Fotos: Université de Lausanne
Herr Stolz, die Schweiz steht seit dem Votum gegen Minarette als fremdfeindlich und demokratiepolitisch fragwürdig in Verruf. In Ihrem Buch „Soziologie der Fremdenfeindlichkeit“ haben Sie eine Haltung von Menschen herausgearbeitet, die Sie als Traditionalismus bezeichnen. Wer sind diese Traditionalisten?
Ich glaube nicht, dass die Schweiz ein besonders fremdenfeindliches Land ist – jedenfalls nicht mehr oder weniger als vergleichbar modernisierte Länder Europas. Aber zu ihrer Frage: Als Traditionalismus bezeichne ich eine Art generelle Veränderungsfeindlichkeit. „Traditionalisten“ sind Leute, die an Traditionen festhalten und gegen Veränderungen kämpfen, die sie in der Gesellschaft wahrnehmen. Der Traditionalismus macht sich in vielen Formen bemerkbar: Traditionalisten ziehen moralisch sehr enge Grenzen, in kognitiver Hinsicht nehmen sie in der Umwelt ständig Verfallstendenzen wahr. Kulturell tendieren sie zu nationalen oder anderen Gemeinschaften. In diesem Sinne ist Traditionalismus ein Syndrom.
Sind Traditionalisten also Raunzer, die für Populismus anfällig sind, gerne die Opposition wählen, aber sich gesellschaftlich wenig beteiligen?
Nein, das muss überhaupt nicht so sein. Mit einer traditionalistischen Sichtweise kann man sehr aktiv sein und auch militant werden. Im religiösen Bereich entspricht dies dem Fundamentalismus. Auch der Fundamentalismus ist eine Reaktion auf Veränderungstendenzen, mit denen man nicht einverstanden ist, die man einfach nicht hinnehmen will. Traditionalisten leiden nicht unter den Veränderungen: Sie nehmen Veränderungen oft nicht einfach passiv hin, verteidigen statt dessen die aus ihrer Sicht wichtigsten Werte der Gesellschaft.
Ein Element des Traditionalismus ist die Fremdenfeindlichkeit. Geht es in Wahrheit um andere Ängste, die auf Fremde projiziert werden?
Projektionen und Fehlwahrnehmungen kommen häufig vor. In der traditionalistischen Sicht werden Bedrohungsszenarien aufgebaut, die in der Realität oft keine Entsprechung finden. In der Schweiz wurde im Vorfeld der Abstimmung über die Minarette das Szenario einer islamisierten Schweiz gezeichnet. Dabei gibt es in der Schweiz nur vier Minarette, zwei davon schon sehr lang, die bislang noch niemanden gestört haben. Solche Fehlwahrnehmungen kommen aber nicht nur bei Traditionalisten vor, sondern auch bei politisch linken Gruppen.
Der Traditionalismus ist politisch rechts?
Ja, der Traditionalismus ist rechts, auch wenn er sich interessanterweise oft in der politischen Mitte wähnt.
Das „Minarettverbot“ nach der Abstimmung ist kein Ausdruck von Irrationalität?
Ich würde zwar sagen, dass das Volk einen Fehler gemacht hat, aber Irrationalität ist soziologisch nur schwer nachweisbar. Das Minarettverbot widerspricht den demokratischen Grundsätzen, es ist ein diskriminierendes Gesetz. Das Abstimmungsergebnis zeigt, dass dies dem Volk nicht deutlich genug gemacht werden konnte. Das ist ein Versagen der Politik ebenso wie von mir und meinen soziologischen Kollegen.
Inwiefern?
Wir haben ja die Aufgabe, diese etwas abstrakten Vorzüge der freiheitlich demokratischen Grundordnung aufzuzeigen. Das ist eine schwierige Position, es ist leichter, vor Gefahren zu warnen.
Haben im Minarettstreit die Traditionalisten gewonnen?
Ja, das kann man so sagen. Es ging im Prinzip um die alte Frage nach den Fremden in der Schweiz. Seit den Überfremdungsdebatten in den 1960er und 70er Jahren ist das ein konstantes Thema. Damals sprach man von der Italienisierung der Schweiz und sagte, die Italiener seien nicht integrierbar, weil sie ganz andere Sitten hätten. Heute gelten die Italiener als die sympathischsten Einwanderer, ja sie werden gar nicht mehr wirklich aus „Ausländer“ angesehen. Das ist möglich, weil in den 1980er Jahren die Türken die Stelle der Italiener eingenommen hatten, dann kamen die Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien und im Moment sind es die Muslime. Die „Fremden“ werden ausgewechselt, aber die Idee der Welle, die über das Eigene hereinbricht, bleibt gleich. Neu an der aktuellen Debatte ist die religiöse Aufladung.
Gibt es Ursachen für die beschriebenen Konjunkturen?
Das hängt auch mit dem Anteil der jeweiligen Gruppe an der Einwanderung und mit ihrem sozialen Hintergrund zusammen. Diejenigen, die zuerst kommen, fangen oft ganz unten in der sozialen Hierarchie an, sie bekommen die schlechten Jobs und können die Sprache am schlechtesten. Die Muslime hier in der Schweiz verfügen im Vergleich mit anderen religiösen Gruppen noch über sehr wenig eigene Ressourcen, sie haben auch keine nennenswerte politische Elite, die den Anschuldigungen begegnen könnte.
Wird eine einer Einwanderergruppe mit zunehmendem wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Erfolg für die Traditionalisten „uninteressant“?
Ja. Auch wenn es nicht naturgesetzlich so ablaufen muss, ist es doch meistens so, dass eine Einwanderergruppe die Sprache lernt, manche steigen auf, kommen in Führungspositionen, es bildet sich eine Elite. Schon ab der zweiten und dritten Generation verlieren sich die kulturellen Eigenheiten der Ersteinwanderer. Diese Integration braucht Zeit, aber es kann wesentlich schneller gehen, wenn viele Einwanderer aus der Oberschicht stammen. Andererseits gibt es jetzt in der Schweiz auch Stimmen, die sagen, dass es zu viele deutsche Akademiker in der Schweiz gibt.
Von wem kommt diese Kritik?
Auch von der SVP – und interessanterweise sind plötzlich auch manche Mediziner und Anwälte einverstanden. Ihnen geht es vor allem um die Konkurrenz, die durch die deutsche Einwanderung entsteht. Es gibt aber nicht einmal in Ansätzen eine vergleichbare Mobilisierung wie gegen die Muslime. Diese steigen nur langsam auf. In solchen Situationen besteht die Gefahr einer Unterschichtsbildung mit sozialen Problemen wie Kriminalität und Gewalt. Kommen kulturelle Unterschiede hinzu, entsteht das Gefühl, die Leute mit dieser Kultur seien generell Kriminelle. Diesen Kreislauf muss eine Gesellschaft durchbrechen, indem sie Aufstiegschancen bietet statt Barrieren zu errichten wie mit der Antiminarett-Entscheidung. Diese Initiative sagt „Wir wollen euch einfach nicht, auch wenn wir keinen Grund dafür haben“.
Sind dann die Fremden doch nur ein zufälliger Sündenbock?
Zumindest sind Traditionalisten nicht darauf angewiesen, dass es viele Einwanderer gibt. Fremdenfeindlichkeit scheint in der Schweiz sogar gerade da am stärksten zu sein, wo es besonders wenige Ausländer gibt, also in den ländlichen Kantonen der Zentralschweiz. Diese Leute haben nie ein Minarett gesehen und wahrscheinlich auch keinen Asylwerber. Es genügt, in den Medien davon gehört zu haben. Unerwünschte Veränderungen einer Gesellschaft können sich aber auch an anderen Dingen festmachen, zum Beispiel an einer neuen Kultur oder generell am Kleidungs- und Musikstil junger Menschen. Traditionalisten haben das Gefühl, dass nichts mehr so wie es früher ist und dass es früher besser war. Ausländer sind für sie das Zeichen und die scheinbare Konsequenz der Veränderungen.
Gibt es bestimmte soziale Trägergruppen für den Traditionalismus?
Untere Gesellschaftsschichten sind tendenziell eher traditionalistisch, weil sie schlechter auf den sozialen Wandel reagieren können. Jemand, der gut ausgebildet ist, kann leichter dazu lernen und sich neu orientieren. Wenn man diese Ressourcen nicht hat, wird man versuchen, den Wandel zu stoppen, auch wenn das nicht geht. Aus ähnlichen Gründen haben auch ältere Leute eher traditionalistische Einstellungen. Bei ihnen kommt hinzu, dass sie wenig Anreiz haben, etwas Neues dazu zu lernen. Ein ganz wichtiger Punkt ist außerdem die Sozialisierung in der Familie. Die Grundwerte werden sehr stark von den Eltern und ihrem Milieu beeinflusst.
Nimmt der Traditionalismus also mit der Bildung ab?
In gewisser Weise ermöglicht Bildung kognitive Komplexität und einen weiteren Horizont. Aber es gibt hoch gebildete Traditionalisten, die ihre traditionelle Weltsicht wunderbar begründen und theoretisch ausführen können.
Wie kann man der traditionalistischen Sicht politisch begegnen?
Über die Fakten aufklären muss jede demokratische Gesellschaft. Um die Ausländerfeindlichkeit zu bekämpfen, ist aber eine möglichst schnelle Integration notwendig: Einwanderer brauchen die gleichen Rechte, um zu einem Faktor im politischen Spiel werden zu können. Sobald sie nämlich wählen, sind sie attraktiv für politische Parteien. Wenn es dann außerdem eine Aufsteiger-Elite gibt, können sie sich verteidigen. Einwanderer in führenden Positionen ändern die ganze Sachlage.
Aber gerade bei den muslimischen Einwanderern gibt es antidemokratische Einstellungen.
Das ist das alte Dilemma – wie viel Unfreiheit toleriert man für die Freiheit? Man muss Regeln setzen. Gegen gewisse Dinge wie Zwangsheiraten oder Verstümmelungen von Geschlechtsorganen z.B. muss der Staat hart vorgehen – ob nun bei Muslimen oder Andersgläubigen. Es gibt aber auch Graubereiche, in denen man verschiedener Meinung sein kann, was in einem politischen Prozess ausgehandelt werden muss. Oft wird übersehen, dass die Religionen keine unwandelbaren Systeme sind. In den meisten Fällen können sich religiöse Gruppen relativ leicht an die jeweiligen Gesetze der Aufnahmeländer anpassen. Ausserdem findet eine interne Säkularisierung statt, dadurch verschwinden auch manche Probleme. Das geht allerdings nur dann, wenn man die Leute nicht ausgrenzt. Ausgrenzung führt eher zu einer Fundamentalisierung.
Arbeiten Volksabstimmungen wie beim Minarettverbot den Traditionalisten zu?
Zum Teil denkt das Volk tatsächlich konservativer als die politischen Eliten, im Fall der Schweiz geben die Abstimmungen den kleinen ländlichen Kantonen ein unheimliches Gewicht. Hinzu kommt, dass das politische System der Schweiz – ein Konkordanzsystem ohne Regierung und Opposition – die Parteien an den Rändern stärkt. Damit wird auch der Rechtspopulismus und die politische Polarisierung gestärkt. Die Sozialisten sind in der Schweiz linker und die Rechten sind rechter als in anderen Ländern.
Läuft es also auf eine Auseinandersetzung zwischen oben und unten hinaus? Die politischen Eliten setzen sich ja aus Angehörigen der Oberschicht zusammen.
Es gibt sicher eine Kluft zwischen Elite und Volk. Aber auch die Traditionalisten haben ihre sehr gut gebildeten Eliten. Insofern kann man das nicht auf den Unterschied von oben und unten reduzieren. Es ist ein ernst zu nehmender ideologischer Unterschied. Warum in der Schweiz bei der Minarettfrage so abgestimmt wurde, hängt nicht nur mit Traditionalismus zusammen, sondern auch mit spezifischen Rahmenbedingungen, vor allem der Wirtschaftskrise. Und dann hat die Schweiz in letzter Zeit viele Schläge Viele Schweizer haben das Gefühl, dass die Schweiz von einem der besten Länder zu einem Problemfall wird.
Das müsste die Eliten besonders treffen.
Nein, es trifft die, die darauf stolz sein möchten, Schweizer zu sein, die auf das nationale Selbstbewusstsein setzen. Sie identifizieren sich besonders stark mit der Schweiz. Das ist ein wichtiger Punkt der erklärt, warum das Verbot mit großer Mehrheit angenommen wurde.
Das heißt, wirtschaftliche Krisen und empfundene Demütigungen des nationalen Selbstbewusstseins geben dem Traditionalismus Auftrieb?
Es sind zumindest verstärkende Faktoren. Werthaltungen und Sichtweisen sind beeinflussbar und verändern sich. Die Medien spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle, genauso wie die Politik.
Zur Person:
Der Soziologe Jörg Stolz befragte 1994 für seine Dissertation „Die Soziologie der Fremdenfeindlichkeit“ 1300 SchweizerInnen im Alter von 18 bis 65 Jahren und kam zu einem erstaunlichen Ergebnis: Weder persönliche Unzufriedenheit noch eigene Erfahrungen sind für Fremdenfeindlichkeit verantwortlich, sondern eine Haltung, in der die Angst vor Modernisierung und sozialer Veränderung dominiert. Stolz nannte dieses Phänomen Traditionalismus und arbeitete ein präzises Gesellschaftsprofil der TraditionalistInnen heraus. Jörg Stolz hält heute eine Professur an der Universität von Lausanne.