Das Boot war schon 1918 voll
Österreich ist stolz auf die Sozialpartnerschaft. Warum nicht ein solches Modell für den Zuzugs- und Integrationsbereich schaffen, fragt der Migrationsexperte August Gächter im Gespräch.Interview: Mark Hammer. Bilder: Karin Wasner
Herr Gächter, ist Österreich ein Einwanderungsland?
Nein, weil sich der Staat definitiv nicht so versteht. Österreich ist eine Gesellschaft mit tagtäglicher Einwanderung aber von staatlicher Seite wird immer betont, dass das Land diese erleide und nicht einlade.
Manche PolitikerInnen und Zeitungen zeichnen das Bild, dass wir überrannt werden. Wie hat sich der Zuzug nach Österreich in den letzten Jahrzehnten entwickelt?
Mengenmäßig hat sich der Zuzug in den vergangenen 50 Jahren nicht stark verändert. Es hat immer Auf und Ab gegeben. Ein wichtiger Bestandteil dessen waren immer Flüchtlingsströme. Derzeit erleben wir eine Periode, in der verhältnismäßig Wenige herkommen, aber dieses Wenig ist diesmal recht hoch. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass es keine anderen Einwanderungskanäle gibt. Wenn man nicht schon Verwandtschaft im Land hat, muss man einen Asylantrag stellen. Sonst hat man praktisch keine Möglichkeit einzuwandern.
Bleiben viele Menschen langfristig hier?
Eineinviertel Millionen der jetzt in Österreich lebenden Menschen wurden im Ausland geboren. Von vier Menschen, die herkommen, gehen drei wieder weg. Momentan gibt es mehr EU-Innenmigration als früher, was mehr Beweglichkeit schafft, weil die Menschen risikoloser wieder ins Herkunftsland zurück gehen können.
Wie hat sich die Sozialstruktur durch Zuwanderung verändert?
Die Spannweite bei den Berufen ist die gleiche geblieben. Man hat durch den Zuzug das Personal gehabt, auf allen Ebenen, aber insbesondere unten, zu ergänzen und jene, die vorher schon da waren, aufsteigen zu lassen. Relative Armut hat ein ethnisches Gesicht bekommen. Deswegen ist ein großer Teil der Fremdenfeindlichkeit Armenfeindlichkeit. Dem alten Satz „Armut macht fremd und Fremdheit macht Angst“ müsste man davor setzen: „Einwanderung macht arm.“ Ein Universitätsabsolvent von außerhalb der EU15 verdient ungefähr gleich viel wie ein inländischer Lehrabsolvent, weil er nicht den adäquaten Job und – genauso wie Frauen – die gläserne Decke über sich hat. Und: Es gibt die klare Erwartung in der Gesellschaft, dass die Inländer die Chefs sind. Selbstständigkeit ist für den beruflichen Aufstieg gut; Selbstständige sind eher qualifikationsadäquat beschäftigt.
Wie schwer oder leicht fällt es MigrantInnen, überhaupt Arbeit zu finden?
Es wird ein klarer Trennstrich gezogen zwischen denen, die arbeiten dürfen, und denen, die nicht dürfen. Das Nichtdürfen ist sehr stark auf Asylwerber konzentriert. In den letzten Jahren hat man für den Familiennachzug wesentliche Hindernisse beseitigt. Es ist aber für Ehepartner immer noch ein Problem, dass sie für fünf Jahre an den Ehepartner gekettet bleiben und wenn sie die Ehe verlassen, keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben und das Aufenthaltsrecht verlieren.
Und Diskriminierung?
Diskriminierungstests der Internationalen Arbeitsorganisation ILO der UNO zeigen, dass ein Hauch von einem Akzent genügt, um von circa 40 Prozent der Betriebe nicht mehr in Betracht gezogen zu werden, und sich die Firmen nicht erkundigen, welche Ausbildung, berufliche Erfahrung oder soziale Kompetenz man hat. Viele Arbeitgeber entscheiden auf Basis von billigen Vorurteilen und fragen sich nicht, wer die oder der am besten Qualifizierte ist. Das schlägt sich aber nicht in der Arbeitslosenstatistik nieder. Der eine bekommt nach einem Anruf die Chance auf einen Job, der andere eben erst nach drei oder fünf Anrufen.
Viele Menschen haben Angst, dass uns MigrantInnen Arbeitsplätze wegnehmen.
Die Angst ist ein vordergründiges Argument, um Abneigung zu begründen. Es hat in den letzten 50 Jahren zwar viel Verdrängung gegeben, doch sie war fast zur Gänze keine aus dem Arbeitsmarkt hinaus, sondern hinauf in der sozialen Hierarchie. Dadurch, dass es quasi beschlossene Sache war, dass die Österreicher die Chefs der Ausländer sein sollen, sind mit ausländischen Arbeitskräften in Hilfs- und Anlerntechniken die Inländer in die mittleren Positionen aufgestiegen oder haben in die besser bezahlten Hilfs- und Anlerntätigkeiten gewechselt.
Kinder von MigrantInnen in der Schule sind ein heißes Thema. Übertrieben?
Zahlenmäßig ist das in Wien nicht übertrieben. In Wien ist in jeder Altersgruppe unter 35 Jahren die Mehrheit der Bevölkerung entweder im Ausland geboren oder hat zumindest einen im Ausland geborenen Elternteil. In der Altersgruppe unter zehn Jahren sind es bis zu 65 Prozent. Die Diskussion über Sprache in der Schule wälzt den Anpassungsbedarf ganz auf Kinder und deren Eltern ab. Bis heute sind in pädagogischen Akademien alle Fächer, die mit Einwanderung zu tun haben, Wahlfächer. Das ist 50 Jahre nach Beginn der Anwerbung im Ausland keine zufriedenstellende Situation. Lehrer in Österreich werden für eine rein einsprachige Situation ausgebildet, die nicht der Realität entspricht, und sind dann verständlicherweise überfordert und erbost, wenn sie in die Realität entlassen werden. Es ist grobe Fahrlässigkeit, dass man in der Lehrerausbildung nichts gemacht hat. In der öffentlichen Diskussion zu sagen, die Ausländer sind schuld, halte ich für eine Sauerei.
Das heißt, es geht um mehr als Sprachprobleme?
Die schwarzblaue Regierung hat das mit dem Deutsch seinerzeit zum Thema gemacht und das ist mit großem Genuss breit aufgegriffen worden. In der Schule ist Sprache nur dann ein Problem, wenn man nicht weiß, wie man damit umgeht. Kinder sind in der Lage, sehr rasch Sprachen zu lernen. Es muss aber einen Anreiz geben. Dazu muss Akzeptanz da sein. Man wird nicht die Sprache derer lernen, die auf einem herum trampeln und einen wegen jeder Kleinigkeit, für die man nichts kann, blöd anreden.
Wie könnte man weg von der Ethnisierung sozialer Konflikte und hin zu Problemlösungen kommen?
Es gibt in Österreich enormen Stolz auf die Sozialpartnerschaft. Es bräuchte auch im Einwanderungs- und Integrationsbereich sowas wie Partnerschaft. Da sollte man eine Partnerschaft der Betroffenen – also derer, die diskriminieren und derer, die sich diskriminiert fühlen – über formale Organisationen einrichten. In Irland hat man dafür eine gute Lösung gefunden: Man hat die Kernpartnerschaft auf etwa 25 Mitglieder erweitert. Da sitzt eine ganze Anzahl von NGOs aus Diskriminierungsbereichen drinnen.
Was würden Sie jemandem entgegnen, der sagt, dass das Boot voll ist?
Die vielleicht sarkastische Gegenfrage ist, warum ausgerechnet jetzt? Dass das Boot voll sei, wird in Österreich seit 1918 gesagt. In den 90 Jahren seither ist Jahr für Jahr der empirische Nachweis erbracht worden, dass es nicht voll ist. Wer sagt, es sollte von jetzt an keine Einwanderung mehr geben, kann eigentlich auch der Einwanderung in der Vergangenheit nicht positiv gegenüber stehen. Doch wie weit zurück hätte die Einwanderung gestoppt werden sollen? Da wird die Wahrscheinlichkeit relativ groß, dass die Person, die man vor sich hat, selbst nicht da wäre.
Zur Person:
August Gächter, Jahrgang 1958
Der Soziologe forscht seit 20 Jahren zu Migration und Integration. Er arbeitet am Zentrum für Soziale Innovation (ZSI) in Wien und ist Konsulent für das International Migration Programme der Internationalen Arbeitsorganisation ILO der UNO, für die er eine über das Internet abrufbare Datenbank von Antidiskriminierungs- und Gleichbehandlungsaktivitäten erstellt. www.wisdom.at/ilo