Was wurde aus der Multitude?
Mit der Antiglobalisierungsbewegung ist auch die Idee der Multitude in die Krise geraten. Die Vielfältigkeit der Bewegung offenbarte ihre andere Seite: als zusammenhangloses Nebeneinander politischer und sozialer Initiativen.
Text: Karl Reitter, Fotos: Ares Ferrari
Der Begriff Multitude, zu Deutsch „Menge“, wurde durch das Buch Empire von Antonio Negri und Michel Hardt populär. Im Jahr 2000 erschienen, war das Werk ein durchschlagender Erfolg. Breit rezipiert und diskutiert, schien es für eine Phase, als ob der Begriff Multitude zum festen Bestandteil des gesellschaftskritischen Denkens werden würde. Heute, fast zehn Jahre nach Erscheinen ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Und diese Bilanz ist ernüchternd.
Fragen wir zuerst nach einigen Gründen für den großen Erfolg von Empire. Der Text ist ein großer Entwurf, der sich nicht mit Kleinigkeiten abgibt. Gegenstand des Buches ist der seit Jahrhunderten währende Konflikt zwischen der Multitude und ihrer produktiven Fähigkeit zur Selbstorganisation einerseits und den ihr äußerlichen Kräften von Kapital und Staat andererseits, die der Multitude eine fremde und repressive Ordnung aufzwingen wollen. Die Initiative lag immer schon, so Hardt und Negri, bei der Multitude. Diese trieb die Kräfte der repressiven Ordnung vor sich her. Auch die Ablöse des alten Imperialismus durch das ihm nachfolgende Empire war und ist ihr Werk. Staat und Kapital erscheinen so als bloße Hülle, als der Multitude äußerliche, parasitäre Kräfte. „Das Empire selbst ist keine positive Wirklichkeit“ lesen wir etwa auf Seite 368.
Wer formt die Welt?
Nicht nur der große Wurf, auch der ermutigende Optimismus wirkte befreiend. Nach dem Zerfall und dem Desaster des Realen Sozialismus, nach all den Jahren der neoliberalen Umwälzung der Gesellschaft schien Empire die düsteren Gedanken der Niederlage und Ohnmächtigkeit wie mit Zauberhand zu verscheuchen. Opposition, Freiheitsstreben und Selbstbestimmung seien quicklebendig wie nie zuvor lautete die Botschaft. Unversehrt und voll kreativer Produktivität sei das Subjekt der Befreiung und des Kommunismus, sein Name: Multitude.
Alte, überholte Begriffe wie Imperialismus aber auch Proletariat und ArbeiterInnenklasse wurden durch neue Ausdrücke, nicht zuletzt eben durch den Terminus Multitude ersetzt. Neue Begriffe versprachen ein neues Denken, die linke Theorie sollte sich daran erneuern und den Ballast der Vergangenheit abschütteln. Während in den Augen der Öffentlichkeit der Ausdruck Proletariat mit einer versunkenen Arbeiterkultur und einer schwindenden Industriearbeiterschaft verknüpft ist, verwies Multitude ebenso auf die Vielfältigkeit der sozialen Existenzformen wie auf die Pluralität des Widerstandes der sozialen Bewegungen. Negri und Hardt verknüpften zudem geschickt den Ausdruck Multitude mit neuen Aspekten der Arbeit, elegant flossen die Termini „affektive Arbeit“, „Information und Wissen“ und vor allem „immaterielle Arbeit“ in den Diskurs ein. Im Herzen der Multitude schienen die neuen postfordistischen Arbeitsformen auf, die die Autoren als historisch verspäteten Ausdruck des Strebens nach Freiheit und Selbstbestimmung der 68er Bewegung interpretierten.
Die Antiglobalisierungsbewegung, die nach den Protesten gegen eine Konferenz der WTO in Seattle im November 1999 einen mächtigen Aufschwung nahm und in die Sozialforenbewegung ab 2001 mündete, schien exakt mit den Merkmalen der Multitude zu harmonieren: vielfältig, dezentral, aktiv, selbstbewusst, international vernetzt und ohne traditionelle, repräsentative politische Organisationsformen, schien sich ein neues politisches Subjekt herauszubilden. Mit der Antiglobalisierungsbewegung ist auch der Begriff der Multitude in die Krise geraten. Die Pluralität und Vielfältigkeit der Bewegung offenbarte ihre andere Seite: als ein zusammenhangloses Nebeneinader politischer und sozialer Initiativen, die als Bewegung selbst kaum politisch handlungsfähig ist. So berechtigt und notwendig die Kritik an der Repräsentation auch war – niemand ernsthaft kann beanspruchen, im Namen bestimmter sozialer Gruppen und Klassen zu sprechen – so sehr drohte das Konzept der Multitude in einen Absentismus gegenüber der politischen Sphäre selbst zu kippen. Wozu sich mit Wahlen, Regierungsbildungen und Gesetzen beschäftigen, wenn doch die Multitude unablässig die Welt formt?
Ansammlung von Singularitäten
Vor allem stimmte der Triumphalismus immer schlechter mit der alltäglichen Lebenswirklichkeit überein. „In Wahrheit nämlich sind wir die Herren dieser Welt, weil unser Begehren und unsere Arbeit sie fortwährend neu erschaffen.“, wird in Empire behauptet. (394) Die gesellschaftliche Entwicklung weist leider in die gegenteilige Richtung: Der Druck auf Erwerbsarbeitslose, MigrantInnen und Studierende steigt. Gesetze werden verschärft, die Kontrolle erhöht. Die Wechselwirkung von neuen, prekären Arbeitsformen, hoher Sockelarbeitslosigkeit und postfordistischen Umstrukturierungen hat die Situation aller Erwerbstätigen massiv verschlechtert. Der Begriff der Multitude wurde als unkritisches Feiern der neuen selbständigen und scheinselbständigen Schichten kritisiert. Diese Kritik war zweifellos überzogen, aber ein kleiner Kern von Wahrheit ist ihr nicht abzusprechen. Tatsächlich schienen die im immateriellen Sektor arbeitenden Personen so etwas wie eine neue Avantgarde einer veränderten Produktionsform zu sein, einer Produktion, die primär auf Informationsverarbeitung und Kommunikation beruht. Insbesondere diese Schichten müssten, schon um ihre Arbeit durchführen zu können, über Souveränität und Autonomie verfügen können. Inzwischen haben zahllose Menschen Erfahrungen mit den neuen, postfordistischen Arbeitsformen gemacht. Von den ursprünglichen Hoffnungen ist wenig geblieben. Auch in den so genannten Avantgardesektoren dominiert Fremdbestimmung und Hierarchie. Statt als Herren der Welt, fanden sich viele als Knechte des Marktes wieder.
Auch die Sphäre der großen Weltpolitik lässt sich kaum mit dem Muster „die Multitude agiert, das Empire reagiert“, deuten. Welche Triebkräfte und Kalküle wir auch immer hinter den Kriegen, militärischen, politischen und ökonomischen Interventionen der dominierenden Mächte vermuten, die Multitude scheidet in der Regel als treibende Instanz realistischer Weise aus.
Wenn sich aber Erfahrungen, sei es auf lokaler, sei es auf internationaler Ebene, immer schwieriger mit bestimmten Begriffen deuten und erklären lassen, dann geraten diese Begriffe in die Krise. Diese Krise wurde und wird durch theoretische Unklarheiten verschärft, die diesen Begriff immer schon anhafteten. Nicht zufällig erfolgte die Definition der Multitude nur in Abgrenzung zum Volksbegriff. Diese Unterscheidung funktioniert: das Volk kann sich nicht selbst organisieren, es bedarf zu seiner Existenz den Staat, der es repräsentiert und dadurch ins Leben ruft. Im Gegensatz dazu ist die Multitude eine nicht repräsentierbare, sich selbst organisierende Vielheit. Aber wie ist das Verhältnis zum Begriff des Proletariats? Keine der ProtagonistInnen des Multitudebegriffs dachte daran, den Terminus Proletariat aufzugeben und durch den der Multitude zu ersetzen. Dies ließ jede Menge Fragen offen, die bis dato nicht geklärt sind.
Gerät ein Denken in die Krise, reagiert es mit Formeln und Floskeln. Zweifellos ist jede sozialphilosophische Theoriebildung auf einer hohen Abstraktionsebene angesiedelt. Wenn die Aussagen jedoch zu kreisen beginnen, wenn Konkretisierungen kaum vorzunehmen sind, dann ist Skepsis angesagt. Die Multitude, so Negri und Hardt im später verfassten Buch Multitude, sei eine diffuse Ansammlung von Singularitäten, die ein gemeinsames Leben produzieren. Ohne Geld, ohne Zwang zur Lohnarbeit, ohne durch Gesetze und Bestimmungen kontrolliert und bestimmt zu werden? Oder sollen alle diese aufgezählten Elemente bloß äußerlich Zusätze sein, die das eigentliche produktive Sein der Multitude nicht berühren würden und ihre ontologischen Bestimmungen nichts angingen? Wenn wir aber diese Bedingungen als Momente der realen Existenzsituation der Multitude akzeptieren, ist dieser Begriff dann noch in seiner ursprünglichen Version aufrecht zu erhalten?
Es ist kein Zufall, dass der Begriff der Multitude gegenwärtig still und leise aus der Diskussion verschwindet. Manche ProtagonistInnen erkennen offenbar seine Schwächen. An die Stelle einer kritischen Bilanz scheint jedoch ein neuer Betriff zu treten: es ist der Begriff des Gemeinsamen, der Begriff „Commons“. Nun gut: die Diskussion sei eröffnet.
Karl Reitter ist Publizist, Buchautor, Redakteur von „grundrisse – zeitschrift für linke theorie und debatte“.
Der Begriff Multitude wurde durch das Buch Empire von Antonio Negri und Michel Hardt populär. Darin erweitern die Autoren den „klassischen“ operaistischen Ansatz, wonach die ArbeiterInnenklasse, ihre Kämpfe und ihre Wünsche das eigentlich bestimmende Subjekt der geschichtlichen Entwicklung darstellt. Die Stelle des Proletariats nimmt nun die Multitude ein, deren soziale Existenz nicht mehr an das Lohnverhältnis gebunden wird. Die Multitude ist das eigentliche, unverfälschte Subjekt der Geschichte. Völker und Nationen sind bloß sekundäre, durch Staat, Repräsentation und Medien erzeugte Masken, die über die Multitude gestülpt werden.