Die Gutmenschen packen an
NGOs wollen nicht mehr der Tagespolitik hinterher hecheln, sondern selbst Zukunft schreiben. Mit 13 Anstößen zeichnen Menschenrechts-Initiativen ein anderes Bild von Österreich 2020. Text: Maria Sterkl Illustration: Eva Vasari
Österreich im Jahr 2010: 44 Prozent der WienerInnen haben Migrationshintergrund, viele davon türkische Wurzeln. Ein Schulsystem, auf das der Staat etwas hält, sollte diese Muttersprachen fördern, da vom Ausbau dieser Talente die gesamte Gesellschaft profitiert. Möchte man denken. Als Wiens Bürgermeister laut über türkischsprachige Schulen nachdachte, sorgte er für helle Aufregung und wurde herb kritisiert, bis er sich schließlich selbst distanzierte. Auf Bundesebene kommt derartige Verwirrung erst gar nicht auf. Kürzlich habe sie den türkischen Botschafter getroffen, erzählt Innenministerin Maria Fekter bei einem launigen Auftritt im Wiener Europa Club Anfang April. Der Botschafter habe angeregt, den Türkischunterricht auszubauen – schließlich sei es laut ExpertInnenmeinung gut für Kinder, in ihrer Muttersprache gestärkt zu werden. „Da hab ich gesagt: Genau, Herr Botschafter, wir lernen (sic!) nämlich auch den Müttern Deutsch! Dann gibt es gar kein Problem mit der Muttersprache.“ Applaus im Saal. Das ist eine Ministerin, die anpackt, hieß es danach beim Buffet. Da wurde auch über Grammatikfehler gerne hinweg gesehen.
Lebensumfeld selbst gestalten
Anpacken. Das kommt gut an, in einer Zeit, da niemand weiß, wo es lang geht. Nachdem Religion, Ideologie und Tradition als Wegweiser ausgedient hatten, hielten wir uns für geraume Zeit ans Konsumieren. Nun ist Wirtschaftskrise, wir arbeiten fleißig, um mit einem Teil des Lohns Großbanken wieder liquid zu machen. Wo bleibt da noch Platz für Wellness und coole Klamotten?
Auf die Frage, wohin es gehen, soll, stürzen sich nun ausgerechnet jene Initiativen, die von ihren KritikerInnen bislang eher mit Sozialromantik assoziiert wurden als mit Pragmatismus. NGOs wie SOS Mitmensch, ZARA (Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit), das Integrationshaus und das Interkulturelle Zentrum haben sich zusammengetan: Als „Netzwerk Chancen – Rechte – Vielfalt“ (NCRV) zeichnen sie in 13 thematisch formulierten „Anstößen“ ihr eigenes, positives Bild der Zukunft: Österreich im Jahr 2020 ist „ein Land mit demokratiebegeisterte BürgerInnen“, heißt es im Perspektivenkonzept. Menschen legen Wert darauf, ihr Lebensumfeld mitzugestalten. Sie engagieren sich für ein besseres Leben, warten aber nicht darauf, bis der Staat Gesetze erlässt, sondern setzen sie im eigenen Betrieb, im eigenen Verein, schon vorher um. Alle wissen um ihre Rechte, es gibt Doppel-Staatsbürgerschaften und mehrsprachige Schulen, vormals benachteiligte Minderheiten sind nun in Politik, Wirtschaft und Medien an machtvollen Positionen zu finden.
Totale Schulreform
Und zwar schon im Kindergarten, sagt Martin Schenk, der in der NGO-Plattform das Ressort Bildung betreut. Schulklassen, in welchen sich ausschließlich weiße Mittelschichtkinder ohne körperliche Behinderungen versammeln, seien im Jahr 2020 „abnormal“, sagt Schenk. Sie stünden unter Druck zu rechtfertigen, warum sie so eigenartig homogene Klassen führten. Im Schulalltag in zehn Jahren sei eine Trennung in Sonderschule, Hauptschule, Gymnasium und Elitegymnasium undenkbar, dann lernen alle mit allen. Es brauche deutlich mehr Maßnahmen als die Einführung der Gesamtschule, glaubt der Sozialexperten der Diakonie Österreich, denn die würde für sich genommen „rein gar nichts bewirken“. In die neu designten Schulen aber werden auch gleich neue Unterrichtsmodelle und neu geschulte LehrerInnen einziehen. Offene Lerneinheiten statt des starren 50-Minuten-Musters, zwei oder drei LehrerInnen in altersübergreifenden Klassen statt Frontalunterricht, und sieben Schulfächer anstelle des heutigen „Mega-Fächerkanons“. So sieht Schenk die Schule 2020. Bislang ökonomisch schlechter gestellte Bezirke würden hingegen mit deutlich mehr Geld ausgestattet: High-Tech-Physik-Säle, bombastisches Turngerät und bunte Zusatzangebote könnten dafür sorgen, dass auch Herr Notar und Frau Staatsanwältin ihre Kinder gern in die Gesamtschule in Wien Favoriten schicken.
Wie wird die Total-Reform möglich? In der Vision von Martin Schenk sind wirtschaftliche Argumente der Auslöser. In Wissensgesellschaften sei die Wirtschaft einfach darauf angewiesen, dass das Schulsystem so viel wie möglich aus den Talenten der Menschen herausholt und sie fördert.
Finanzielle Argumente spielen auch im Kapitel Fremdenrecht der „Anstöße“ mit: Es sei im Jahr 2020 schlicht zu teuer, einen Fremdenrechts-Apparat mit ewig neuen Rechtspaketen zu quälen. Darum heißt die Devise: Ausmustern, jäten, weg mit der Normenflut: Konkret schweben Georg Atzwanger, der das Kapitel Fremdenrecht mitverfasst hat, weniger Gesetze vor, die dafür verständlich formuliert sind. Ist das schon visionär? Ja, meint der Referent der Caritas Wien: Heute sei es schließlich „sogar für JuristInnen kaum möglich, die vielen Novellierungen zu durchschauen.“ Der mangelnde Zugang zum Recht sei „ein soziales Problem. Das als Menschenrechtsorganisation zu vernachlässigen, halte ich nicht für redlich.“ Genau das sei in der Alltagspraxis aber passiert. Die Frage, ob es angesichts der Bandbreite der Organisationen im Netzwerk schwierig war, einen inhaltlichen Konsens zu finden, verneint Atzwanger klar. „Es war uns wichtig, den Fokus aufs Grundsätzliche zu legen.“ Zudem nähmen die einzelnen Organisationen ohnehin ständig inhaltlich Stellung.
Interkultur
Handfester wird es im Kapitel zur Sprache. „Im Jahr 2020 entschließt sich die österreichische Regierung, den Artikel 8, der das Deutsche als Staatssprache definiert, aus der Bundesverfassung zu streichen.“, schreiben die SprachwissenschafterInnen Verena Plutzar und ihre KollegInnen. Bosnisch/Serbisch/Kroatisch, Türkisch und Polnisch – alles, was regional von Vielen gesprochen wird, ist im Jahr 2020 offizielle Amtssprache. „Wer nur Deutsch und Englisch kann, wird nur ungern in den öffentlichen Dienst aufgenommen.“ Es entsteht ein boomender Markt an Dolmetschleistungen, die in Schulen, Unis und auf Ämtern gerne nachgefragt werden. Ein ähnliches Bild zeichnet das Kapitel Gesundheit: Dolmetschangebote in Krankenhäusern sind im Jahr 2020 längst Pflicht, ÄrztInnen mit interkultureller Kompetenz werden bevorzugt eingestellt. Besonders dann, wenn sie selbst Migrationshintergrund haben. Denn es ist deklariertes Ziel, dass Zugewanderte gemäß ihrem Bevölkerungsanteil auch bei den PrimarärztInnen vertreten sind – und nicht vorwiegend als Reinigungs- und Pflegekraft.
Wie die schöne Welt des Jahres 2020 aber entstehen soll, war bei der Auftaktkonferenz des Netzwerks Ende März eher Nebensache. Es ging, so schien es, vor allem um Atmosphärisches: Weg vom ewigen Hinterherhasten, von Stellungnahmen zur Tagespolitik, die sich als Halbsätze in den Medien wieder finden. Dafür hin zu einer eigenen, aktiven Programmpolitik. „Wir lassen uns von Frau Fekter nicht mehr die Themen vorgeben.“, formuliert es ein Beteiligter. Das Frühlingserwachen der NGOs, dem fast zwei Jahre Vorarbeit vorangingen, folgt aber auch einer selbstkritischen Einsicht: „Wir wollen weg vom Defizitorientierten, hin zu neuen Zusammenarbeitsformen.“, sagt Philipp Sonderegger, Sprecher von SOS Mitmensch.
Für das Zusammenrücken der NGOs diente die Armutskonferenz als Vorbild. Ähnlich wie diese fordern auch die Anstöße eine Absage an den alten, spaltenden Integrationsbegriff und, mit einer verlockenden Parole, „ein gutes Leben für alle“. Dazu Sonderegger: „Der Integrationsbegriff kennt nur zwei Gruppen: In- und Ausländer. Wir wollen den Begriff öffnen. Wenn wir von einem guten Leben für alle sprechen, sprechen wir von Männern und Frauen, von Arm und Reich, usw. Wir glauben, jede/r soll so leben wie er/sie will. Wir glauben, dass persönliche Freiheit und die Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts kein Widerspruch sein muss.“ Wer heute benachteiligt ist, solle ermächtigt werden, in allen Bereichen der Gesellschaft aktiv zu werden.
Bei dieser Frage bräuchten aber auch die „Anstöße“ noch einen Denkanstoß: Am Schlusspanel der gut besuchten Auftaktkonferenz fand sich nur ein einziger Migrant – ein eingeladener Referent. „Am Netzwerk sieht man, dass es nicht so leicht ist, diese Anliegen durchzusetzen.“, meint Georg Atzwanger, der die Gründe in einer Schwäche der MigrantInnen-Vereine sieht: Wenn sich NGOs wie beim Netzwerk über Jahre hinweg regelmäßig treffen, „dann geht kleineren Vereinen irgendwann die Luft aus.“ Größere Institutionen tun sich leichter, weil sie über Hauptamtliche verfügen, „die dafür bezahlt werden, sich mit diesen Themen zu beschäftigen. Offenbar brauchen auch Antidiskriminierungs-NGOs Druck, um Zugewanderte einzubeziehen. „Das lässt sich nur über Konflikte verändern“, räumt Sonderegger ein, die Platzhirsch-Mentalität sei das Hauptproblem des Netzwerks.
Gut möglich, dass im Eingestehen dieses Problems der wesentliche Reformprozess der Anstöße besteht. Bis Sommer werden die einzelnen Themenbereiche – Gesundheit, Bildung, Arbeitsmarkt, etc. - noch in Workshops bearbeitet, im Herbst findet eine Schlusskonferenz statt. Danach könnte, ähnlich der Armutskonferenz, ein jährlicher Menschenrechts-Gipfel stattfinden. Es gibt also noch Gelegenheit, den Nicht-Repräsentierten Platz zu machen. Bis 2020 sind schließlich zehn Jahre Zeit.