Fragmentierung der Arbeitswelt
Alessandro Pelizzari beschreibt die Bewältigungsstrategien von prekär Beschäftigten als Verteilungskämpfe um Sicherheit. Der Soziologe und Gewerkschafter warnt im Gespräch vor der Herausbildung neuer sozialer Klassen. Interview: Pascal Jurt Fotos: Francesco Saccomanni
Herr Pelizzari, Sie beschäftigen sich mit den Dynamiken unsicher gewordener Beschäftigungsverhältnisse. Der Begriff der Prekarität hat in diesem Zusammenhang in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Karriere absolviert. Was verstehen Sie darunter?
Das Internationale Arbeitsamt definiert heute ein Beschäftigungsverhältnis als prekär, wenn es sozial- und arbeitsrechtlich schlecht abgedeckt ist, durch ein niedriges Einkommen geprägt ist und keine langfristige Lebensplanung ermöglicht. Neu ist das natürlich nicht. Prekär bedeutet im Wortlaut ja nichts anderes als unsicher, widerruflich. Damit ist jedes Lohnarbeitsarbeitsverhältnis potenziell prekär, denn wer von Lohnarbeit lebt, hat schon immer damit rechnen müssen, dass das Arbeitsverhältnis aufgelöst werden kann, oder dass es für ein Leben in Würde nicht ausreicht. Dass seit rund einem Jahrzehnt wieder vermehrt von Prekarität die Rede ist, hängt damit zusammen, dass die sozialen Garantien, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Absicherung der Lohnarbeit beigetragen hatten, nach und nach wieder abgebaut worden sind. Es darf auch nicht vergessen werden, dass weite Teile der Erwerbsarbeit, insbesondere von Frauen und Migranten, immer vom Modell des männlichen „Normalarbeitsverhältnisses“ ausgeschlossen blieben. Um das Neue an der Prekarität erfassen zu können, muss also von den politischen und ökonomischen Dynamiken gesprochen werden, die die Lohnarbeit wieder enger an kurzfristige unternehmerische Marktrisiken koppeln. Damit wird individualisiert, was früher als spezifisches kollektives Risiko erkannt worden war: Nämlich dass die Arbeitskraft eine besondere Ware ist, die an den Menschen als natürliches und soziales Wesen gebunden ist und von daher auch besonderen Schutz bedarf.
Konkreter Gegenstand ihrer Analyse ist der Schweizer Arbeitsmarkt. Entgegen den offiziellen Statistiken zeigen Sie auf, dass Beschäftigungszuwächse fast ausschließlich im Bereich prekärer Arbeit statt findet.
Internationale Studien beziffern den Anteil prekärer Beschäftigungsverhältnisse je nach Land auf 10 bis 35 Prozent aller Erwerbsverhältnisse. Auch in der Schweiz sind die zwei vergangenen Jahrzehnte nicht spurlos am Arbeitsmarkt vorbeigezogen. Ein Teil der Beschäftigungszuwächse hat zwar im hoch qualifizierten Bereich stattgefunden, aber insgesamt sind die Kerne „normaler“ Vollzeitbeschäftigung geschrumpft. Ihnen steht heute eine beträchtliche Anzahl von Temporärarbeitern, Beschäftigten auf Abruf oder Scheinselbständigen gegenüber, die in den letzten Jahren zum Teil exponentiell gewachsen ist. Allerdings schlägt sich Prekarisierung nur zu einem Teil in den Statistiken nieder. Beschäftigungsverhältnisse werden grundsätzlich wieder unsicherer, und zwar nicht nur in den Randlagen des Arbeitsmarktes.
Sie unterscheiden verschiedene Teilarbeitsmärkte als ein wichtiges Merkmal der Prekarisierung. Stehen den homogenisierenden Tendenzen zur Prekarisierung massive Segmentierungs- und Fragmentierungsprozesse gegenüber?
Prekarisierung hat viele Ursachen. Erstens unterscheiden sich die Strategien der Unternehmer, Qualifikationen zu verwerten und Arbeitskraftpotentiale zu nutzen, je nach Teilarbeitsmarkt. Betriebliche Flexibilisierungsstrategien können etwa in den exportorientierten Branchen dazu benutzt werden, um kurzfristig auf Auftragsschwankungen zu reagieren. In gewerkschaftlich stark durchdrungenen Sektoren wie dem Baugewerbe werden sie eher zur Erprobung eines zukünftigen Mitarbeiters eingesetzt. In noch anderen Fällen dienen sie der reinen Kostensenkung, etwa in den tief qualifizierten Branchen des Dienstleistungssektors. Zweitens hat sich auch der Staat in den letzten Jahren wieder vermehrt in die Erwerbssphäre eingeschaltet. Denken Sie etwa an die bildungspolitischen Entwicklungen, welche den Laufbahnstart für viele Arbeitsmarktneulinge erheblich destrukturiert hat. Oder an die so genannte „Aktivierungspolitik“ in der Sozial- und Arbeitslosenpolitik, welche generell die Wiedereintrittsbedingungen in den Arbeitsmarkt nach unten korrigiert. Drittens haben sich mit der Zunahme der Frauenerwerbsarbeit und den Änderungen der Aufenthaltsvergabepraxis für eingewanderte Arbeitskräfte auch die Konkurrenzverhältnisse gering qualifizierter Erwerbsgruppen in prekären Arbeitsmärkten verschärft. Das Resultat ist ein hoch segmentierter Arbeitsmarkt.
Gleichzeitig wollen Sie die klassentheoretischen blinden Flecken in der qualitativen Prekarisierungsforschung überwinden. Glauben Sie, dass die Schärfung des Begriffs der Prekarisierung zum Verständnis alter und neuer Unsicherheiten kapitalistischer Vergesellschaftung beitragen kann?
Das Phänomen der Prekarisierung wird in der Regel auf einzelne Erwerbsverhältnisse zurückgeführt. In diesem Zusammenhang machte vor einigen Jahren die Idee die Runde, dass mit dem Prekariat ein neues Proletariat entstehen würde. Oder Prekarisierung wird auf einen Generaltrend reduziert, durch den alle unaufhaltsam auf eine schiefe Ebene geraten. Beide Thesen führen meiner Meinung dazu, die Auswirkungen der Prekarisierung auf die soziale Ungleichheitsstruktur zu banalisieren. Denn es ist genauso verkürzt, prekär Beschäftigte auf eine abgrenzbare Population von Marginalisierten zu reduzieren, wie zu behaupten, dass heute niemand mehr in Sicherheit ist. Entscheidend scheint mir, Prekarisierung nicht als einen Prozess von „oben“ zu begreifen, der quasi auf die Betroffenen niedergeht. Vielmehr müssen auch die vielfältigen Anpassungsstrategien und Konkurrenzkämpfe der Beschäftigten in den Blick genommen werden, durch die jene Beschäftigten mit den schlechtesten Ausgangsvoraussetzungen immer mehr an den Rand gedrängt werden. So können sich heute auf dem Arbeitsmarkt beispielsweise zwei Gruppen gegenüberstehen: ältere, überwiegend männliche Generationen, die lebenslang im Normalarbeitsverhältnis erwerbstätig waren und volle Ansprüche auf die soziale Sicherung erworben hatten. Und bislang ausgeschlossene Beschäftigungsgruppen wie Migranten, Frauen oder jüngere Arbeitnehmer gegenüberstehen, die stabile Erwerbsverhältnisse nur vom Hörensagen kennen und in der prekären Beschäftigung das Versprechen auf neuartige Entwicklungsmöglichkeiten sehen. Das führt zu einer Restrukturierung von sozialen Klassenverhältnissen, aber vor allem auch zu verschärften Positionierungskämpfen.
Sie haben 38 narrative Interviews mit prekär Beschäftigten ausgewertet und eine Typologie erarbeitet. Was wollten Sie herausfinden?
Mir ging es mit einer Typologie verschiedener Formen der Prekarität vor allem darum, aufzuzeigen, dass heute sogar im gleichen Betrieb Beschäftigte zu völlig unterschiedlichen Konditionen nebeneinander arbeiten können. Das stellt insbesondere für gewerkschaftliche Arbeit eine neue Herausforderung dar. Nehmen wir das Beispiel einer Baustelle: Hier streiten heute Grenzgänger und papierlose Einwanderer, Leiharbeiter und Scheinselbständige, entsandte Hilfskräfte und einheimische Fachkräfte um Positionen, die in den letzten Jahren immer prekärer geworden sind. Während die einen ohne Aussicht auf ein sicheres Beschäftigungsverhältnis sind, betrachten andere die prekäre Arbeit als Übergangsphase in eine berufliche Konsolidierung, und akzeptieren die daraus entstehenden Nachteile für eine bestimmte Zeit. Ohne zu vergessen, dass beispielsweise der Einsatz von Temporärarbeitern auch auf gewerkschaftlich gut organisierte Stammbelegschaften zurückwirkt, denn diese sehen, dass ihre Arbeit auch von Personal bewältigt werden kann, das für die Ausübung dieser Tätigkeit Arbeits- und Lebensbedingungen in Kauf nimmt, die in der Stammbelegschaft kaum akzeptiert würden. Die daraus entstehenden Interessenlagen und Bewältigungsstrategien sind so unterschiedlich wie die Erwerbsformen und Berufsverläufe selbst. Und doch wäre es verfehlt, aus der Fragmentierung der Arbeitswelt einzig individuelle Positionierungskämpfe abzulesen. Vielmehr wurden in den Interviews auch jene Strategien deutlich, mit denen die Beschäftigten Sicherheit und Stabilität in den eigenen Erwerbsverlauf zu bringen versuchen.
Sie schlagen eine Entprekarisierung vor. Was verstehen Sie darunter? Ein Zurück zu fordistischen Normalarbeitsverhältnissen?
Ja und nein. Gewerkschaftliche Politik muss heute defensiv und offensiv zugleich sein. Nebst gesetzlichen und gesamtarbeitsvertraglichen Maßnahmen zur Sicherung prekärer Erwerbslagen müssen wir in der Lage sein, eine neue, auf die verschiedenen Formen der Prekarität ausgerichtete Partizipationspolitik zu formulieren, mit der dazu beigetragen werden kann, dass prekär Beschäftigte handlungsfähig bleiben. Dazu gehört einerseits der Ausbau der Rechte in jenen Arbeitsmarktsegmenten, die weder durch das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht noch von gesamtarbeitsvertraglichem Schutz abgesichert sind, also beispielsweise die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, wie es der Schweizerische Gewerkschaftsbund heute fordert, aber auch die Regularisierung von Beschäftigten ohne legalen Aufenthaltsbewilligung oder die Einführung eines Kündigungsschutzes, der diesen Namen auch verdient. Andererseits gilt es, gezielte organisatorische Maßnahmen zu ergreifen, um die Prekären in die Organisationen der Arbeiterschaft einzubinden. Zahlreiche Beispiele belegen, dass spezifische Dienstleistungen und lokale Bündnisse mit sozialen Bewegungen und Selbsthilfeorganisationen beträchtliche Organisationserfolge ermöglichten, die auch erheblich zur Revitalisierung gewerkschaftlicher Strukturen beigetragen haben.
Sie sind auch als Regionalsekretär der Gewerkschaft Unia in Genf tätig und können an der „Revitalisierung gewerkschaftlicher Struktur“ auch praktisch mitwirken. Sind denn kapitalismuskritische Töne im gewerkschaftlichen Alltag möglich?
Sie sind nicht nur möglich, sondern dringend nötig. Ansonsten droht, wie im Herbst in den Genfer Kantonsratswahlen deutlich wurde, das Aufflammen von fremdenfeindlichen oder populistischen Ressentiments gegenüber schwächeren Erwerbsgruppen. Die Gewerkschaften haben die neuen sozialen Folgen und Spaltungen, die mit der Dynamik der Prekarisierung einhergehen, zu lange ignoriert.
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Alessandro Pelizzari
Dynamiken der Prekarisierung.
Atypische Erwerbsverhältnisse und milieuspezifische Unsicherheitsbewältigung
UVK Verlag, 2009, 354 Seiten, 35 Euro
ZUR PERSON
Alessandro Pelizzari, geboren 1974, ist Regionalsekretär der schweizerischen Gewerkschaft Unia in Genf. Er promovierte 2008 mit seiner Publikation „Dynamiken der Prekarisierung“ an der Universität Genf. Neben seiner Studie über Exklusionswirkungen von atypischen Erwerbsverhältnissen hat er hat u. a. zur Lage der Working poor in der Schweiz, zum New Public Management als neoliberalen Angriff auf die öffentlichen Dienste und Transformationen der Arbeitswelt gearbeitet.