Eine stille Revolution
Das erzkonservative Äthiopien erlebt einen erstaunlichen Richtungswechsel in Fragen der Familienpolitik. Die Politik billigt Abtreibungen, Jugendvereine verteilen öffentlich Kondome und Kinderreichtum bedeutet nicht mehr unbedingt ein Statussymbol.
Reportage: Mary Kreutzer, Corinna Milborn Bilder: Andrea Künzig/DSW, Mary Kreutzer
„Kondom-Show“ in Addis Abeba. Die Leute johlen, die Aufklärung steigt, die Regierung goutiert es.
Ein Busbahnhof in der Provinzstadt Nazret, 90 Kilometer von Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba entfernt. Rund 500 Menschen haben sich hier auf einem Platz versammelt, wo eine Tanzgruppe traditionelle Tänze aufführt. Ein dünnes Seil hält die dicht gedrängte Menge von der improvisierten Bühne zurück. Die Stimmung ist fröhlich aufgeheizt wie auf einem Jahrmarkt: Der lokale Jugendclub führt eine „Kondom-Show“ auf.
Hinter den TänzerInnen stapeln sich Familienpackungen von Kondomen. Als die Musik verstummt, halten zwei Jugendliche aus dem Youth-to-Youth-Club eine Packung nach der anderen hoch. Der junge Mann und die junge Frau rufen in die Menge: „Bananengeschmack! Kaffeegeschmack! Extra sensitiv! Gerippt!“ Die Leute johlen. Es folgt ein Quiz: Fünf zufällig ausgewählte Jugendliche stellen sich Fragen zu Sexualität und AIDS. Eine junge Frau im traditionellen, islamischen Gewand ist dabei, das Kopftuch schließt das Gesicht streng ein. Sie beantwortet einwandfrei, auf welche Arten AIDS übertragen wird, und gewinnt eine 100er-Packung Kondome. Der Rest der Kondome wird am Ende in die Menge geworfen. Die Menschen balgen sich darum wie um Süßigkeiten.
Äthiopien, eines der ärmsten Länder der Welt. Nach wie vor werden hier über 80 Prozent der Mädchen genital verstümmelt. In manchen Regionen ist die Entführung und Vergewaltigung zehnjähriger Mädchen der traditionelle Weg, um sich eine Frau zu nehmen. Es ist ein Land, in dem Frauen wenig zu sagen haben, in dem die Welt aufgeteilt ist zwischen äthiopisch-orthodoxen Christen, sunnitischen Muslimen und einigen traditionellen Religionen. Eines haben alle gemeinsam: Sie sind extrem konservativ, haben größten Einfluss auf das tägliche Leben – und obwohl sie Abtreibung strikt ablehnen, haben sie sich nicht gegen das neue Gesetz gewehrt, das Doktor Asefa und seinem Team erlaubt, hier zu operieren.
Dagim Asefa ist Arzt und medizinischer Direktor des Provinzkrankenhauses von Adama. Mit seinem blitzweißen Mantel steht er vor einer der niedrigen Türen des Hospitals. Von den Wänden blättert dunkelgelbe Farbe. Drüben in der Notaufnahme liegen PatientInnen auf Tüchern auf dem Boden des Flurs, weil die Betten nicht reichen. Hier, ein paar Gänge weiter, herrscht Ruhe. Über der Türe hat jemand auf englisch aufgemalt: „Safe abortion room.“ Der Raum ist winzig klein, eine Liege und ein gynäkologischer Stuhl stehen darin, davor eine Metallschüssel. Es sieht nicht aus wie eine Revolution. Und doch ist das, was hier geschieht, Zeichen eines tiefgehenden gesellschaftlichen Wandels: Frauen können hier aus eigener Entscheidung bei bester medizinischer Betreuung abtreiben lassen.
„Persönlich bin ich strikt orthodox und sehr konservativ.“, erzählt Asefa. „Doch was sind unsere persönlichen Werte gegen unsere berufliche Pflicht, Leben zu retten? Wenn ich die Abtreibung nicht durchführe, dann wird die Frau sie hinter dem Krankenhaus machen lassen, und ich werde sie in ein paar Tagen wieder hier sehen – blutend, entzündet und mit Fieber. Bei euch in den reichen Ländern kann man sich bei Diskussionen um Abtreibung den Luxus moralischer Überlegungen leisten. Hier in Äthiopien geht es darum, Menschenleben zu retten.“
Liberale Gesetze vs. Tradition
Nur vier Länder erlauben in Afrika Abtreibung unter bestimmten Umständen: Marokko, Südafrika, Ghana – und das konservative Äthiopien. Bis 2005 waren Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführten, noch mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bedroht. 2002 setzte eine konservative Regierung das Gesetz mit aller Härte durch. „Wir haben es bis dahin immer geschafft, bekannt genug zu sein, dass die Frauen zu uns fanden – und unbekannt genug, um dem Gesetzgeber nicht ins Auge zu fallen“, erzählt Schwester Skewage Alemu, Leiterin eines der Marie-Stopes-Krankenhäuser in Addis Abeba. Sie arbeitet seit 19 Jahren in dem luftigen Hospital mit seinen Pavillons aus weiß gestrichenem Holz, eine Vorreiterin im Kampf für Abtreibung. „Aber 2002 war es vorbei: Unsere Krankenhäuser wurden für mehrere Monate geschlossen.“
Die Marie-Stopes-Krankenhäuser führen allein in Addis Abeba 400 bis 500 Abtreibungen pro Monat durch. Als sie geschlossen wurden, hielt das die Frauen nicht davon ab, abzutreiben: Sie suchten Hilfe bei den traditionellen Abtreiberinnen, die in der ganzen Stadt ihre Dienste anbieten – teurer als beim Arzt, und ohne medizinisches Fachwissen. In den Wochen darauf füllten sich die Gänge der regulären Krankenhäuser in Addis Abeba mit Frauen, die an Unterleibsblutungen und Entzündungen litten. Viele starben.
Die Gynäkologen schlugen Alarm und forderten die Legalisierung der Abtreibung. Ein Gesetzesantrag wurde eingebracht.
Der Protest war zunächst groß: Die Kirchen wehrten ab, US-amerikanisch finanzierte NGOs zeigten den Anti-Abtreibungsfilm „The Silent Scream“ im Parlament. „Aber was ist das für eine Moral, wenn es um das Leben der Mütter geht?“ sagt Saba Kidanemariam von der Internationalen Frauengesundheitsorganisation IPAS, die für die Einführung des Gesetzes kampagnisierte. „Die Frauen sterben hier vor unseren Augen. Ich respektiere, dass das ungeborene Kind ein Mensch ist. Doch ich stehe vor der Wahl, ein Menschenleben zu retten oder beide dem Tod zu überlassen.“ IPAS und die Gynäkologen überzeugten die Kirchen mit der Macht der Zahlen: 50 Prozent der Müttersterblichkeit in Äthiopien gehen auf Hinterhof-Abtreibungen zurück, ergab eine Studie von IPAS. „Und diese Zahlen kennen wir nur von jener Hälfte der Bevölkerung, die auch Zugang zum Gesundheitssystem hat. Die Sterblichkeit dürfte also noch viel höher liegen.“ Als 2005 das Gesetz beschlossen wurde, war kein Protest mehr zu hören. Seither ist Abtreibung nach Vergewaltigungen, bei Inzest, für Minderjährige und bei Beeinträchtigung der geistigen oder körperlichen Gesundheit erlaubt.
„Wir haben ein Stillhalteabkommen mit den Kirchen. Denn auch sie können die große Anzahl toter Frauen nicht ignorieren und haben ihren Teil der Verantwortung zu leisten.“, erklärt Gesundheitsminister Tedros Adhanom Ghebreyesus. Er sitzt in einem muffigen Besprechungsraum seines Ministeriums und erzählt mit großer Geste. So katastrophal die Bilanz des Landes bei den meisten Themen rund um Armut, Menschenrechte und Gesundheit auch ist. – Was sexuelle und reproduktive Rechte für Frauen betrifft, hat Äthiopien fortschrittlichere Gesetze als die meisten anderen afrikanischen Staaten. Und der Minister interpretiert sie großzügig: „Wir ermuntern unsere Ärzte, das Gesetz so freizügig wie möglich auszulegen. Es gibt formell zwar Bedingungen. Aber jede Frau, die es will, soll eine sichere Abtreibung bekommen.“
Die Ärzte, etwa im Provinzkrankenhaus von Adama, halten sich daran. Gründe, die die Frauen angeben, werden nicht geprüft, ebenso wenig wie ihre Namen. „Wenn eine 50-jährige Frau behauptet, sie sei unter 18, dann genügt das.“, sagt Doktor Asefa. „Wenn sie sagt, sie wurde vergewaltigt, akzeptieren wird das ohne nachzufragen. Es wird hier ohnehin dauernd vergewaltigt, an jeder Ecke, bei Tag und Nacht.“ Zumindest in seinem Einzugsgebiet ist die Zahl der Frauen, die nach Hinterhof-Abtreibungen eingeliefert werden, deutlich zurückgegangen.
Und auch Frauen, die in keine der vorgegebenen Kategorien fallen, können auf eine sichere Abtreibung zählen. Im Wartezimmer des Marie-Stope-Krankenhauses in Addis Abeba treffen wir eine junge Frau, die gerade auf die Abtreibungspille Mifegyne wartet, in Österreich übrigens Gegenstand geharnischter Moral-Diskussionen. Die Frau wurde noch während des Stillens schwanger und will das Kind nicht bekommen. „Ich habe schon zwei Kinder, und möchte ihnen eine gute Ausbildung ermöglichen. Dazu muss ich wieder in das Berufsleben einsteigen. Ein weiteres Kind geht sich da nicht aus.“, sagt sie.
In diesem Satz liegt die tief greifende Revolution der Politik vergraben: Eine große Kinderschar ist für die Frauen Äthiopiens kein Status-Symbol mehr. In der Stadt sind es zwei, auf dem Land maximal vier, die sich Frauen wünschen. Doch im Schnitt bekommen sie 5,7 Kinder. Das ist selbst in Subsahara-Afrika eine Rekordzahl. „Aber keine Frau will so viele Kinder bekommen: Das bindet ihre Energie, das Geld reicht nicht für alle. Allein in der Hauptstadt leben 65.000 Straßenkinder. Das würde nicht passieren, wenn Frauen selbst bestimmen könnten.“, sagt Tirsit Grishaw, Leiterin des Äthiopien-Büros der „Deutschen Stiftung Weltbevölkerung“ (DSW), die sich auf sexuelle und reproduktive Gesundheit spezialisiert hat.
Bisher sind Abtreibungen für 86 Prozent der Frauen die einzige Möglichkeit, die Zahl der Kinder nicht weiter ansteigen zu lassen. Nur 14 Prozent haben Zugang zu Verhütungsmitteln. Das soll sich nun ändern – angefangen bei den Jungen.
Tabus fallen
Zurück nach Nazret zur Kondom-Show auf dem großen Platz. Nach dem Quiz präsentieren die Jugendlichen ihr Hauptquartier: Ein Hinterhof mit Stühlen und Sesseln unter einer Zeltplane. Vor dem Eingang hängt ein großes Werbeplakat – für Kondome, natürlich. Hier treffen sich die jungen Männer und Frauen im Alter von 14 bis 18 Jahren wöchentlich und sprechen über alles Mögliche, vor allem aber über Sexualität. Bücher mit expliziten Darstellungen liegen bereit, alle Arten von Verhütungsmitteln werden detailliert erklärt. „Abstinenz vor der Hochzeit ist auch unsere Wahl,“, sagt Biritu. „doch das ist eben nicht immer möglich.“ Biritu ist 15, und sie hat ein zweijähriges Kind. Als sie zwölf war, wurde sie von ihrem Onkel vergewaltigt. Sie kann über das traumatische Erlebnis sprechen, auch wenn sie dabei stockt. „Ich bin nicht allein, so etwas passiert sehr vielen Mädchen. Wenn meine Tochter groß ist, soll sie selbst bestimmen können, mit wem sie Sex hat und wie viele Kinder sie haben will.“, sagt sie.
Die äthiopische Organisation der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung hat das Land mit einem Netz von Jugendclubs überzogen, in denen über Verhütung, AIDS und Sexualität gesprochen wird. Ihre Offenheit ist selbst für EuropäerInnen erstaunlich. „Vor fünf Jahren war es noch unmöglich, in der Öffentlichkeit das Wort Kondom in den Mund zu nehmen.“, sagt Grishaw. „Und nun sehen Sie, was sich hier verändert hat.“
Die Regierung hat die Notwendigkeit der Wahlfreiheit für Frauen ebenfalls erkannt – wenn auch weniger aus feministischen Gründen als aus pragmatischen: Die Armut, der Hunger und die Folgen des Klimawandels werden bei explodierenden Bevölkerungszahlen zu Katastrophen. Doch in einem Land, in dem 80 Prozent der Bevölkerung mehr als einen halben Tag Fußmarsch von der nächsten Straße entfernt leben, scheitert die Wahlfreiheit schon an verfügbaren Information, und an der medizinischen Versorgung. Derzeit läuft deshalb ein groß angelegtes Programm, das in jedes Dorf mit mehr als Hundert EinwohnerInnen zwei „Health Extension Workers“ entsendet: Frauen und Männer mit einem Grundtraining in medizinischen Fragen, die zur Aufklärung über Verhütung, Sexualität und Geburt beitragen sollen.
Die erste große Kampagne: Bis Juni dieses Jahres soll drei Millionen Frauen auf dem Land „Implanon“ eingesetzt werden. Das ist ein Stäbchen in der Größe eines Streichholzes, das am Oberarm unter die Haut geschossen wird und Hormone abgibt. Drei Jahre lang verhindert es Schwangerschaften. Die Kampagne kostet 60 Millionen Dollar. „Die Frauen, besonders auf dem Land, würden einem Arzt niemals ihren Intimbereich zeigen – das schließt günstigere Langzeitmethoden wie die Spirale aus. Die Männer wiederum weigern sich, Kondome zu verwenden.“, erklärt Gesundheitsminister Ghebreyesus. Er setzt daher auf die Hormonstäbchen.
„Es gibt noch viel zu tun. Aber wir haben in den vergangenen Jahren zumindest auf der Bewusstseinsebene einen Durchbruch erzielt: Man kann heute mit immer mehr Frauen offen über Abtreibung und Verhütung sprechen“, erzählt Tirsit Grishaw von der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung in Addis Abeba. Und vielleicht, meint die Soziologin, ist dieser Schritt wichtiger als die großen Staudämme, Straßenbauten und Exportprojekte, die die Entwicklung in einem der ärmsten Länder der Welt vorantreiben sollen. Denn solange das Land von Millionen ungewollter Kinder bevölkert ist, für deren Schulbildung und Ernährung das Geld nicht reicht, kann es keine bessere Zukunft geben. Und solange die Hälfte der Bevölkerung in einem Kreislauf aus sexueller Gewalt, ungewollten Schwangerschaften und Geburten gefangen ist, sei es müßig, von Entwicklung zu sprechen: „Jedes Kind sollte gewollt sein, und jede Frau sollte selbst bestimmen können. Dann wird die Armut von allein zurückgehen.“