Wahlwechsel
Bei der Wienwahl am 10. Oktober ist ein Fünftel der Bevölkerung, die ihren Lebensmittelpunkt in Wien hat, nicht wahlberechtigt. Oder doch? AktivistInnen mit Migrationshintergrund zeigen, wie das geht.
Interview: Andreas Görg Fotos: Lisl Ponger
Sidy, du hast bei der letzten Nationalratswahl gewählt, ohne österreichischer Staatsbürger zu sein. Gemäß der Wahlwechsel-Idee wählen Personen, die nicht wählen möchten, im Auftrag einer nicht stimmberechtigten Person. Wie hast du von der Idee erfahren?
Sidy W.: Von einer befreundeten Künstlerin. Hab die Idee super gefunden. Ich lebe hier seit vielen Jahren, meine ganzen Sachen sind hier, ich zahle hier Steuern, meine Kinder gehen hier in die Schule und jede Entscheidung über Staatsangelegenheiten trifft mich genauso. Warum sollte ich nicht wählen? Naja, das habe ich dann auch getan. Ich habe mich eingehend mit den Parteien auseinandergesetzt und meine Wahl getroffen.
Ljubomir, warum machst Du den Wahlwechsel?
Ljubomir B.: Mir gefällt es, dass sie uns das Wählen nicht verweigern können. Wir wählen schon lange, konkret seit der Nationalratswahl 2002. In diesem Jahr wurde auch der letzte Versuch der Demokratisierung des Wahlrechts unternommen und vom Verfassungsgerichtshof wieder aufgehoben. Seither herrscht bezüglich des Wahlrechts Stillstand in den politischen Institutionen. Und wir machen halt Wahlwechsel.
Vlatka, du hast mit dem Wahlwechsel aufgehört. Warum?
Vlatka F.: Vor ein paar Jahren war der Wahlwechsel für mich gut, damals waren wir eine kleine Gruppe, die Idee war eine politische Herausforderung, aber mittlerweile stehe ich dem ganzen skeptisch gegenüber, weil die Idee im kleinen Kreis geblieben ist. Dabei könnte der Wahlwechsel dazu genutzt werden, um Allianzen über den Kreis der antirassisischen Szene hinaus zu schließen. Wir träumen davon, dass der Wahlwechsel riesige Ausmaße annimmt. Aber wir sind immer noch in der Phase des Ausprobierens, was der Wahlwechsel wirklich kann.
Wie soll das Ziehen breiterer Kreise konkret
funktionieren?
Vlatka: Frag in deinem Freundeskreis herum. Der Wahlwechsel hat Vorteile für beide Seiten. Die Abgabe der Wahlentscheidung bringt den Wahlberechtigten üblicherweise Erleichterung. Sie können demokratische Verantwortung abgeben.
Ist der Wahlwechsel ein Verstoß gegen das Wahlrecht?
Ljubomir: Der Wahlwechsel verstößt gegen das geltende undemokratische vom Nationalstaat oktroierte Wahlrecht. Allerdings verstößt das geltende Wahlrecht gegen die Demokratie. Ein demokratisches Wahlrecht wäre, wenn alle, die in einem Territorium rechtsunterworfen sind, auch die Gesetze bestimmen, die auf sie selbst zurückwirken.
Was würdest du Menschen empfehlen, die einen Wahlwechsel machen wollen?
Vlatka: Den Wahlberechtigten würde ich sagen: Wenn FPÖ-Wählen ein Problem für dich ist, dann mach keinen Wahlwechsel. Es kann nur funktionieren, wenn du auch für den Fall offen bist, dass die andere Person völlig andere Meinungen vertritt. Den Nicht-Wahlberechtigten würde ich sagen: Sucht euch eine sehr verschwiegene Person aus, die auf blöde Kommentare zu Eurer Wahlentscheidung verzichtet. Solche Kommentare können Euch die Lust am Wahlwechsel nehmen. Hab ich selbst erlebt.
Für die kommende Wahl wirst du die Wahlwechsel-Idee verbreiten?
Sidy: Ja. Es gibt Leute, die hierher gehören. Wenn der Staat ihnen keine Stimme gibt, dann überlassen wir ihnen halt unsere Stimme. Beim Wahlwechsel geht es für mich nicht nur darum, wer den Staat verwaltet. Die Parteien und Regierungen, die wir uns vorstellen, gibt es eh noch nicht. Es geht um eine breitere Verbindung, um das Zusammenleben in all seiner Komplexität. Daher gefällt mir auch das Logo der Wahlwechsel-Kampagne. Das goldene X steht für mich auch für Zusammenhalt und Zusammentreffen.
Wieso wurde der Wahlwechsel nicht schon längst öffentlich propagiert?
Ljubomir: Nach der faktischen Auflösung der Kampagne ‚Österreich für Alle gleich’ im Vorfeld der Nationalratswahl 2002, hat sich keine Organisation mehr um die Idee gekümmert. Nun hat ENARA, das European Network Against Racism Austria, beschlossen, die Wahlwechsel-Kampagne zum zentralen Schwerpunkt für den kommenden Wahlkampf zu machen und sie im Rahmen der Willenskundgebung ‚Machen wir uns stark’ zu präsentieren. Der Wahlwechsel hat sich seit 2002 bis heute durchgezogen. Die Aktion hat Kontinuität, sie funktioniert. Bei dieser Wahl gibt es nun den Versuch, dass mehrere Organisationen den Wahlwechsel propagieren. Und diese Wahl wird sicher nicht die letzte Wahl sein, bei der Menschen wahlwechseln.
Die Langfassung des Interviews ist auf www.enara.at nachzulesen.
Info
So wird´s gemacht:
Eine wahlberechtigte und eine nicht-wahlberechtigte Person bilden ein Wahlwechselteam. Die nicht-wahlberechtigte Person trifft die Wahlentscheidung, die wahlberechtigte Person verzichtet auf eine eigene Wahlentscheidung. In die Wahlzelle geht die wahlberechtigte Person und kreuzt an, was die nicht-wahlberechtigte Person entschieden hat. That´s it.