Kritik von António Guterres
António Guterres, Hoher Kommissar des Flüchtlingshilfswerks
der Vereinten Nationen UNHCR, kritisiert hohe Schubhaft zahlen in Österreich und fordert ein generelles Umdenken: dass auch
Menschen, die vor extremer Armut und Hunger flüchten, Schutz angeboten wird. Interview: Eva Bachinger
Herr Guterres, wie entwickelt sich Europa? Wird die Festung gegen Flüchtlinge immer stärker ausgebaut? Jede Woche liest man über ertrunkene Menschen aus Afrika.
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Einige Entwicklungen in Europa sind sehr beunruhigend. Für Flüchtlinge wird es immer schwieriger, die Länder zu erreichen, in denen sie um Schutz ansuchen können. Viele Asylsuchende, die versuchen, in europäische Länder zu kommen, werden als Gefahr angesehen. Dabei sind viele unter ihnen selbst in Gefahr. Ich will keinem Land das Recht auf Grenzkontrolle absprechen, aber Menschen, die Schutz benötigen, muss dieser auch gewährt werden. Vor mehr als zehn Jahren hat sich die EU auf die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems geeinigt, auf Gesetzesebene ist seither auch einiges passiert. Vor allem bei der Anerkennung von Asyl gibt es aber noch ein gewaltiges Ungleichgewicht, da muss viel getan werden.Wie beurteilen Sie Österreichs Asylpolitik?
Österreich hat grundsätzlich ein gut funktionierendes Asylsystem. Aber genau wie in vielen anderen europäischen Staaten wurden die Fremdengesetze in den vergangenen Jahren laufend verschärft. Das bedeutet: viele Verpflichtungen und oft sehr wenig Rechte für Asylsuchende. Wir sind tatsächlich besorgt über die strengen Schubhaftregelungen in Österreich und die Anzahl von Asylsuchenden in Schubhaft. Vor allem für Minderjährige fordern wir einen generellen Schubhaftstopp.
Obwohl NGOs seit Jahren heftig die katastrophale menschenrechtliche Situation in Griechenland kritisieren, ja selbst der Europäische Gerichthof für Menschenrechte in Einzelfällen schon Abschiebungen nach Griechenland untersagt hat, beharren europäische Staaten und auch Österreich darauf, weiterhin pro Fall zu entscheiden. Haben Sie dafür Verständnis?
Das UNHCR hat sich wiederholt gegen Abschiebungen nach Griechenland ausgesprochen. Wir fordern Staaten auf, die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sehr ernst zu nehmen. Deutschland, die Niederlande, Großbritannien und Belgien haben bereits einen generellen Abschiebestopp nach Griechenland beschlossen. Aus unserer Sicht ist das die beste Lösung. Wir sind aber überzeugt, dass auch Österreich die Entscheidung des Menschenrechtsgerichtshofs respektieren wird und die Einzelfallprüfungen dazu führen, dass niemand mehr nach Griechenland abgeschoben wird.
Was treibt Sie eigentlich persönlich an, sich für Flüchtlinge zu engagieren?
Flüchtlinge sind eine der verwundbarsten Gruppen weltweit und UNHCR bietet Millionen Menschen lebensrettende Hilfe. Nach meiner politischen Karriere dachte ich: Was kann ich Sinnvolles tun? Wie kann ich meine Energie zukünftig einsetzen? Ich wollte meine Energie und meine Erfahrung für Menschen einsetzen. Und ich glaube, man kann niemanden finden, der in unserer heutigen Welt mehr Unterstützung und Schutz braucht als Flüchtlinge.
Sehen Sie auf unserer Welt noch genügend Solidarität?
Ich fühle mich privilegiert, dass ich jeden Tag große Solidarität erleben darf. Sehr häufig ist das ironischerweise in den aller ärmsten Ländern der Fall. Zum Beispiel in Liberia, einem Land, das sich gerade erst vom Bürgerkrieg und seinen negativen wirtschaftlichen Auswirkungen erholt. 35.000 Menschen von Cote d´Ivoire sind in den letzten drei Monaten nach Liberia geflüchtet. Liberia hat nicht nur seine Grenzen für die Flüchtlinge offen gehalten, sondern die Bevölkerung hat die Flüchtlinge aufgenommen und mit ihnen ihre bescheidenen Ressourcen geteilt. Daher, ja, ich glaube an Solidarität – aber es gibt nicht genug davon.
Bekannte SchauspielerInnen wie Angelina Jolie kampagnisieren für das UNHCR. Ist es überhaupt hilfreich, wenn Stars ein paar Stunden im Jahr Flüchtlingscamps besuchen?
Sonderbotschafter sind absolut wichtig, um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren, und um anwaltschaftlich tätig zu sein. Angelina Jolie ist mittlerweile fast 10 Jahre Sonderbotschafterin, sie hat 35 UNHCR-Einsätze besucht und sich intensiv mit der Fluchtthematik beschäftigt. Sie sensibilisierte erfolgreich die breite Öffentlichkeit und auch Politiker und Entscheidungsträger für dieses Thema. Frau Jolie kann Menschen dazu inspirieren, eine aktive Rolle im Flüchtlingsschutz einzunehmen. Ihr Engagement reicht weit über das klassische Awareness-raising hinaus. Ich habe sie gebeten, bei ihrem Besuch in Pakistan meine persönliche Vertreterin zu sein. Ich hoffe, dass sie diese Aufgabe auch in Zukunft wieder übernehmen wird.
Das UNHCR und die Genfer Konvention feiern ihr 60-jähriges Bestehen. Ist das eigentlich mehr Grund zur Freude oder zur kritischen Reflexion?
Sowohl als auch… Wir haben viele Gründe, um stolz auf unsere Arbeit zu sein. Aber noch viel mehr Gründe, um über die aktuellen Entwicklungen betroffen zu sein. Die tiefer liegenden Probleme für Konflikte, Flucht und Vertreibung sind nach wie vor nicht gelöst. UNHCR wurde ursprünglich zum Schutz von Flüchtlingen in der Nachkriegszeit gegründet. 60 Jahre später ist die globale Flüchtlingspopulation auf über 43 Millionen Menschen angewachsen, die meisten von ihnen werden direkt oder indirekt vom UNHCR betreut. Das Jubiläumsjahr ist also ein wichtiger Anlass, um internationales Engagement für Flüchtlinge, Vertriebene und Staatenlose einzufordern.
Welche Fehler wird das UNHCR in Zukunft versuchen zu vermeiden?
Es geht weniger darum, Fehler zu vermeiden als darum, mit neuen Herausforderungen fertig zu werden. Fest steht, dass wir mehr internationale Solidarität und eine bessere Lastenteilung brauchen. Achtzig Prozent aller Flüchtlinge weltweit befinden sich in Entwicklungsländern. Reichere Länder müssen hier ihre Verantwortung wahrnehmen und diesen Ländern helfen. Wir schätzen, dass rund 800.000 Flüchtlinge weltweit dringend Resettlement, also die Aufnahme durch Drittländer brauchen. Das heißt, sie können weder in ihr Heimatland zurück, noch haben sie die Chance auf ein neues Leben in ihrem Erst-Asylland. Von den Betroffenen werden momentan aber gerade einmal zehn Prozent in Drittländern aufgenommen.
Wie sieht Ihr Blick in die Zukunft aus? Welcher Fokus wird benötigt?
Wir sind momentan mit dem Entstehen globaler, quasi permanenter Flüchtlingsbevölkerungen konfrontiert. Letztes Jahr verzeichneten wir die geringste Zahl von freiwillig nach Hause zurückkehrenden Flüchtlingen in den letzten zwei Jahrzehnten. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Die Veränderung und vor allem die wachsende Unberechenbarkeit von Konflikten erschwert es enorm, Frieden zu schaffen und zu erhalten. Afghanistan und Somalia sind zwei typische Krisenherde, die seit Jahren Menschen in die Flucht treiben. Afghanische Flüchtlinge sind mittlerweile in 69 Länder weltweit geflüchtet und auch in Somalia ist kein Ende der Gewalt in Sicht.
Konflikte und Verfolgung sind heute aber nicht mehr die einzigen Gründe, die Menschen dazu zwingen, Grenzen zu überschreiten. Wir sehen immer mehr Menschen, die aufgrund von Klimawandel, extremer Armut oder dadurch entstandene Konflikte flüchten müssen. Die internationale Gemeinschaft muss Antworten auf diese Probleme finden.
Millionen Menschen verlassen ihre Heimat aus Gründen unvorstellbarer Armut und von Hunger. Dennoch akzeptieren die meisten Staaten das nicht als Asylgrund, solange es keine politischen Ursachen gibt. Halten Sie einen Wechsel dieser Politik für wahrscheinlich?
Die Welt verändert sich und sowohl das UNHCR als auch die Staaten müssen sich an die neuen Herausforderungen anpassen. Es ist nicht länger möglich, die alten Grenzen zwischen freiwilligem Verlassen der Heimat und erzwungener Flucht zu ziehen. Die heutigen Megatrends – Bevölkerungswachstum, Verstädterung, Klimawandel und der Kampf um knappe Ressourcen – stehen in Wechselwirkung zueinander, verstärken Konflikte und zwingen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Nachhaltige Lösungen für globale Fluchtbewegungen von Menschen zu finden, die nicht unter den klassischen Flüchtlingsbegriff internationaler Konventionen fallen, aber trotzdem Schutz benötigen, ist eine enorme Herausforderung für UNHCR und die internationale Gemeinschaft.