Von Bamako nach Dakar
Mauretanien verdient gut daran, im Auftrag Europas Flüchtlinge in LKWs quer durch die Sahara weg zu karren. Nicht alle überleben das. Im Jänner folgte eine transnationale Bus-Karawane vom World Social Forum quer durch Westafrika diesen Spuren. Reportage, Fotos: Corinna Milborn
Mali, an der Grenze zu Mauretanien. „Global Passport“ steht auf dem Dokument, das Sékou dem Beamten im Tarnanzug vors Gesicht hält. Und auf der Rückseite: „Dieses Dokument berechtigt den Inhaber, frei zu wählen, wo er sich niederlassen will, und sich frei zu bewegen.“ Das Dokument ist nur ein weinroter Zettel mit goldener Schrift; dünnes Papier, das im Sandsturm flattert. Für Sékou ist es eine Vision: Er ist schon an vielen Grenzen gescheitert, weil er die falschen Papiere hatte. Mit 17 Jahren machte er sich aus Kamerun auf den Weg nach Europa. Vier Mal hat er die Sahara durchquert, einmal schaffte er es für wenige Tage nach Marseille. In den sechs Jahren seit seinem Aufbruch wurde er insgesamt elf Mal abgeschoben. Jetzt steht er mit dem Global Passport in der Hand an einer schmalen Straße im Sahel, rundherum staubtrockene Buschwüste vor einem wackeligen Grenzbalken: hier Mali, dort Mauretanien. Im Schatten der Grenzbaracke dösen Polizisten hinter ihren dunklen Sonnenbrillen und bemühen sich, die spontane Kundgebung von 200 AktivistInnen der Bus-Karawane Bamako-Dakar zu ignorieren. „Solidarité – avec les refoulés!“ wird skandiert: Solidarität mit den Abgeschobenen! „Frontex abschaffen“ steht auf dem großen Transparent. Es ist ein bunter Haufen von AktivistInnen aus Mali, Kamerun, Sénégal, dazwischen Deutsche, ÖsterreicherInnen und eine lautstarke Abordnung der Sans Papiers aus Frankreich in leuchtend blauen T-Shirts.
EU-Schild im Nirgendwo
Dieser staubige Grenzposten mit seinen drei, vier niedrigen Baracken mitten im Sand ist ein symbolträchtiger Ort. Seit 2007 kommen hier Transporte mit abgeschobenen Flüchtlingen an, die auf dem Weg über Mauretanien auf die Kanarischen Inseln von den spanischen Grenzbehörden oder den Frontex-Schiffen aufgehalten und in das berüchtigte Aufnahmelager nahe der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott gebracht wurden. Die EU zahlt und organisiert die Rücktransporte der Unerwünschten, die an den vorgelagerten Mauern der Festung Europa gescheitert sind und so weit wie möglich nach Afrika zurückgeschoben werden – meist, um gleich wieder aufzubrechen. Mali ist ein Transit-Land, aber auch selbst ein Auswanderungsland: Ein Viertel der Bevölkerung – vier Millionen MalierInnen – leben im Ausland, 120.000 davon in Europa. Die Geldsendungen der MigrantInnen machen den größten Posten im Brutto-Inlands-Produkt aus. Migration ist hier Teil des Lebens – und jemanden in der Familie oder im Freundeskreis zu haben, der am Weg in die Emigration verschwunden ist, ist für fast jeden schmerzhafte Realität. Die EU hat in Form eines Schildes im Niemandsland vor dem Grenzbalken eine zynische Antwort darauf gefunden: „Illegale Migration – eine Gefahr für die Bevölkerung“ steht darauf, verziert mit den gelben Sternen auf blauem Grund. „Finanziert von der Europäischen Union.“
Die gottverlassene Grenze zu Mauretanien ist der abgelegenste Stopp dieser bunten Bus-Karawane quer durch Westafrika zum Weltsozialforum, die AktivistInnen für Bewegungsfreiheit aus Europa und Afrika zusammenbringt. „Die Idee entstand 2009 auf dem „No Border“ Camp in Lesbos.“, erzählt Olaf Bernau von der AktivistInnengruppe „No Lager“ Bremen. Bernau ist auch Mitbegründer des transnationalen Netzwerkes Afrique-Europe-Interact, das die Karawane organisiert. „Bislang endete der Arbeits-Horizont europäischer Antirassismus-Gruppen oft mit dem Tag der Abschiebung. Auf Lesbos haben sich die antirassistischen Gruppen Europas mit VertreterInnen der Abgeschobenen aus Afrika intensiv ausgetauscht, die Grenze von zwei Seiten beleuchtet. Ousmane Diarra und Alasanne Dicko von der Vereinigung abgeschobener Malier haben dann die Karawane zum Weltsozialforum in Dakar 2011 vorgeschlagen.“ Es ist der erste, ambitionierte Versuch, die Aktivitäten gegen Europas Grenzen über eben diese Grenzen hinweg zu vernetzen. Der Aktivist Dieter Behr aus Wien erklärt dazu: „Wir wollen die internationalistischen Bewegungen der 1970er Jahre weiterentwickeln, ohne deren Fehler zu wiederholen. Das heißt: Eine transnationale Bewegung, von unten organisiert, ohne Projektionen oder Helferattitüden – also etwas Neues.“, Behr, der sich sonst mit den Arbeitsbedingungen afrikanischer MigrantInnen in der europäischen Landwirtschaft beschäftigt, ergänzt: „Es geht uns um eine Begegnung auf Augenhöhe.“
Auf Augenhöhe
Eine Begegnung auf Augenhöhe herzustellen, klingt gut, ist aber eine Herausforderung. Die Ungerechtigkeit, die Afrika von Europa trennt, zieht sich auch durch die Gruppe der AktivistInnen, die schließlich Ende Januar 2011 tatsächlich von Bamako nach Dakar aufbrechen. Die einen kommen mit roten EU-Pässen und halbwegs gesicherten Einkommen – frei zu reisen und frei, wieder nach Hause zu fahren. Die anderen stecken in Mali fest, abgewiesen und zurückgeschoben, ohne Einkommen, das ein Bleiben ermöglicht, und ohne Recht zu gehen. Schon am Flughafen Paris, als die erste Gruppe der EuropäerInnen nach Bamako fliegen will, schlägt ihnen die harte Realität der Grenzen ins Gesicht: Im Flugzeug befindet sich ein Schubhäftling, verzweifelt wehrt er sich gegen seine Abschiebung. Die AktivistInnen und weitere Fluggäste können den Abflug verhindern. Die AktivistInnen werden festgehalten, einer schwer verletzt, und können erst am nächsten Tag ihre Reise fortsetzen – und der Afrikaner muss es. Die ersten Tage in Mali drehen sich daraufhin um das Abschiebe-Thema: Sechs Malier waren in dieser Woche aus Frankreich abgeschoben worden. Die Karawanen-Mitglieder demonstrieren vor der französischen Botschaft, werden von der Polizei mit Tränengas vertrieben. „Warum dürft ihr reisen und wir nicht?“ schleudert eine Afrikanerin einem Europäer ins Gesicht. „Wir atmen dieselbe Luft. Wir trinken beide Wasser und müssen beide essen. Warum haben wir nicht dieselben Rechte wie ihr?“ Dafür kämpfen wir doch, sagt der Europäer, deshalb sind wir hier. Sein Unbehagen ist geradezu körperlich spürbar: Die Ohnmacht eines Linken, der realisiert, dass er auf der Gewinner-Seite des verhassten globalen Ungleichgewichts steht – und dieser Ungerechtigkeit nur ein Transparent entgegenhalten kann.
Noch deutlicher erleben das jene europäischen TeilnehmerInnen, die in Bamako bei der ARACEM untergebracht sind. Der Verein bkümmert sich um AfrikanerInnen aus anderen Ländern, die aus Libyen und Algerien abgeschoben und an der Grenze zu Mali ihrem Schicksal überlassen werden. Jede Woche werden hunderte AfrikanerInnen vom libyschen und algerischen Militär abgeschoben und an der Grenze, mitten in der Wüste, ausgesetzt. Einmal pro Woche holt das Rote Kreuz die Bedürftigsten aus der Wüste, die anderen schlagen sich alleine nach Bamako durch. Sie kommen hungrig, krank und schwer traumatisiert an. „Sie haben uns in Lastwagen gesteckt, die wie Käfige vergittert waren, und den ganzen Weg von der Küste weg durch die Wüste allein gelassen.“, erzählt ein Mann aus Kamerun, der eben angekommen ist. „Die Schwächeren, die Kinder und die Frauen überleben das nicht. In unserem Transport waren 300 Personen. 45 waren tot, als wir an der Grenze angekommen sind.“ Andere erzählen von Schlägen, von tödlichen Gefängnissen und wahren Massakern an afrikanischen MigrantInnen in der Wüste – ausgeführt vom algerischen Militär, bestellt von der EU, die ihren Grenzschutz an die nordafrikanischen Transitstaaten auslagert. „Ich habe so viele Tote gesehen, dass ich sie gar nicht zählen kann.“, sagt Mike aus Nigeria. Er ist seit zehn Jahren auf dem Weg nach Europa. 115 Mal wurde er schon abgeschoben – aus Marokko, Tunesien, Libyen, Algerien, Mauretanien. Europa hat er noch nie erreicht. Er hat kein Geld für eine Heimreise, keines für einen Neuversuch durch die Wüste, und landete bei der ARACEM in Bamako. Die bietet drei Tage Essen und medizinische Erstversorgung, ein Dach über dem Kopf für die besonders Bedürftigen, ein paar Moskitonetze für die, die auf der Straße schlafen müssen. Das Essen ist vor einer Woche ausgegangen, die RückkehrerInnen aus der Wüste hungern. In diesen permanenten Ausnahmezustand platzen die Gäste der Karawane aus Europa.
Karawane findet sich
Wie viel ist politisches Engagement für Bewegungsfreiheit in so einer Situation wert – und wann muss man einfach konkret helfen, Schlafplätze, Essen, Kleidung besorgen? Wie viel davon können die AktivistInnen, meist selbst aus prekären Verhältnissen, überhaupt schaffen? Ist es ungerecht oder legitim, wenn sie denen helfen, die sie zufällig persönlich kennen lernen, und anderen nicht? Fragen, denen man auf dieser Karawane nicht entkommt. Das Grüppchen aus Deutschen und ÖsterreicherInnen, das bei der ARACEM untergebracht ist, hilft sich pragmatisch aus dem Dilemma: Sie kaufen Essen für alle ein. So ist zumindest für die Tage ihrer Anwesenheit beantwortet, wozu diese denn gut sei. Aus der Spenderrolle wieder die Begegnung auf Augenhöhe zu machen, ist freilich eine Herausforderung.
Sich dieser zu stellen, ist weniger schwer als gedacht: Das Problem löst sich im gemeinsamen Aktivismus nach und nach auf. In den ersten Tagen ist die Linie zwischen dem „wir“ und dem „ihr“ noch klar von der Herkunft geprägt. Die ersten basisdemokratischen Versammlungen, abgehalten unter einem Zelt auf einem leeren Platz aus rotem Staub in Bamako, sind zum Schreien komisch – wenn auch nur für BeobachterInnen mit Liebe zum Klischee. Ein Afrikaner erklärt wortreich den Rohstoff-Raub durch die EU, stellt dem Plenum drei drängende Fragen und verschwindet nonchalant, bevor noch jemand antworten konnte. Die verzweifelt ordnungsliebende Deutsche fragt in das Geschnatter: „Gibt es denn noch einen Moderation? Und wenn ja, wer ist das?“ Ein Kameruner will wissen, ob sie zu Hause nicht eine Freundin hat, die ihn heiraten würde. Ein französischer Anarcho skandiert: „Demo! Demo! Wir wollen marschieren!“ Die Karawane sucht sich lange, und findet sich langsam.
Später beginnt die Reise in den Bussen an die mauretanische Grenze. 200 AktivistInnen mit Transparenten, Rucksäcken, Matratzen und Moskitonetzen sammeln sich an der Straße. Aufgeregt wie Pfadfinder vor dem Sommerlager, quetschen sie sich in alte Reisebusse. Um 8.00 Uhr früh soll es losgehen. Fünf Stunden später fährt der erste Bus los. Die Karawane ist gestartet. In den zusammengewürfelten Bus-Gemeinschaften beginnt die Vernetzung erst so richtig. Die afrikanischen Gruppen sind unglaublich vielfältig: Frauengruppen, Rückgekehrte aus Elfenbeinküste, Abgeschobene aus Europa, Wohnprojekte für Jugendliche, ProduzentInnen fairer Baumolle. Alle haben mit Migration zu tun und fordern Bewegungsfreiheit – aber sie wollen vor allem die Möglichkeit, zu Hause ein würdevolles Leben führen zu können. Es wird getrommelt, gesungen, gelacht – und bei jeder der unvermeidlichen Pannen, bei jedem spontanen Konzert am Straßenrand, weil wieder ein Reifen geplatzt ist, mischt sich die Gruppe mehr. Als in Nioro du Sahel, einer verlorenen Stadt am Rande der Wüste, ein Konflikt ausbricht, haben sich die Fronten verschoben, die Kategorie Herkunft ist überwunden, nun zählen politische Ansätze von pragmatisch bis links radikal.
Am nächsten Tag findet ein Trauermarsch für die Toten der Festung Europa statt. Die Gruppe aus Bremen hat ein 14 Meter langes Band mitgebracht mit den Namen und Todesursachen von über 14.000 Toten der europäischen Grenzpolitik. Bei den Kundgebungen in Europa ist das ein effektvolles Mittel, um zu visualisieren, was an den Grenzen los ist. Es soll Betroffenheit wecken. Im Sahel ist die Betroffenheit schon da. Die Toten an der Grenze sind NachbarInnen, Familienmitglieder. Immer wieder sammeln sich bestürzte PassantInnen um das Band, studieren Namen, Daten, Herkunftsländer. „Mein Bruder steht nicht darauf! Helft mir suchen, er muss doch draufstehen!“ sagt ein junger Mann. „Ich war in einem Boot mit 50 Leuten, 12 sind gestorben. Das steht da nicht. Das muss ergänzt werden!“, ein anderer. Eine alte Frau bittet inständig um Hilfe bei der Suche ihres Sohnes, der vor Jahren Richtung Norden verschwunden ist. Als die deutsche Gruppe für eine Trauerminute Meeresgeräusche einspielt – in Europa eine willkommene Hilfe, sich den Weg der Flüchtlinge vorzustellen – brechen einige in Tränen aus: „Wir waren selbst auf so einem Boot. Das ist zu viel.“ Es ist ein Schlüsselmoment für manche europäische AktivistInnen, die gewohnt sind, mit harten Mitteln ein abgestumpftes Publikum aufzurütteln. Zugleich bedanken sich PassantInnen überschwänglich für das Interesse, erzählen die Geschichten ihrer verlorenen Söhne, sind froh, sie jemandem mitteilen zu können.
Die Karawane zieht weiter – zurück nach Bamako, dann nach Westen, in den Senegal. Mit jedem Workshop, Theaterstück, Filmabend, Demozug wachsen Gruppen zusammen. Freundschaften entstehen. 3.700 Buskilometer legt der harte Kern von 100 AktivistInnen zurück. „Es war ein unglaublich spannender Prozess, anstrengend und großartig, voller Widersprüche und voller schillernder Begegnungen.“, sagt Dieter Behr aus Wien am Ende. „Der Beginn einer intensiven Vernetzung, wie es sie in diesem Bereich noch nicht gegeben hat.“ Die einen, mit dem roten EU-Pass, fliegen nach Hause – die anderen bleiben. Bande sind geknüpft, die Grenzen verschwommen. Niemand, der dabei war, wird die Situation an der Grenze im Ernstfall in Zukunft nur von einer Seite sehen.
Nur Tage später tritt dieser Ernstfall ein: In Libyen bricht der Bürgerkrieg aus. Hunderttausende Subsahara-AfrikanerInnen fliehen: Nach Tunesien, nach Mali oder, einige wenige, mit dem Schiff nach Europa. Kurze Zeit später löst der Bürgerkrieg in Cote d’Ivoire, eine zweite Fluchtbewegung aus, Hunderttausende kommen aus dem Westen an. Die Grenzen von Mali, einem der ärmsten Länder der Welt, bleiben offen. Die AktivistInnen in Bamako haben alle Hände zu tun, die Ankommenden notdürftig zu versorgen. Jene in Europa verfolgen das Drama per Email und Telefon, versuchen Ressourcen aufzustellen, sind näher dran als zuvor. Nur auf staatlicher Seite Europas bleiben die Türe verschlossen. Italien rief bereits nach 1.750 Ankünften aus Tunesien den humanitären Notstand aus, Europa hat die Seegrenze geschlossen. Kein einziges europäisches Boot holt Flüchtlinge aus Libyen. Dutzende ertrinken beim Versuch, trotzdem überzusetzen, Tag für Tag.
Videomaterial und Möglichkeit zu spenden auf www.afrique-europe-interact.org. Hier ist auch die DVD „Denn wir leben von der gleichen Luft“ über die Karawane zu bestellen.