Lobbyismus als System
Sind die Sozialpartner Lobbyisten? Ein Kommentar von
Hubert Sickinger.
Lobbyismus ist die Vertretung von Interessen gegenüber politischen Entscheidungsträgern. In Österreich war dies traditionell die Domäne der Sozialpartner. Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden: Einerseits vertreten der ÖGB und die Wirtschafts-, Landwirtschafts- und Arbeiterkammern unmittelbar die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber den Parteien und dem Staat. Dies wird ihnen dadurch erleichtert, dass sie mit den beiden Großparteien eng verflochten sind: Seitens der ÖVP dominieren Wirtschaftsbund und Bauernbund politisch die entsprechenden Kammerorganisationen, bei der SPÖ beherrscht die sozialdemokratische Gewerkschaftsfraktion überwiegend den ÖGB und die AK (der ÖAAB ist nur in den AKs von Tirol und Vorarlberg sowie der Beamten-Teilgewerkschaft GÖD am Ruder). In der Praxis bedeutet das allerdings nicht eine parteipolitische Kolonisierung der Verbände, sondern umgekehrt autonome Machtzentren der genannten Partei-Teilorganisationen und eine Dominanz dieser Verbandsinteressen in der wirtschaftspolitischen Entscheidungsfindung der jeweiligen „Mutterpartei“. Weil sich diese Verflechtung über die Besetzung zahlreicher innerparteilicher Führungsfunktionen sowie Mandate in Parlamenten und Regierungen fortsetzt, sind die von den Verbänden vertretenen Interessen prominent im politischen Entscheidungssystem verankert: Ihr Lobbyismus ist der österreichischen Politik systematisch eingebaut.
Unkomplizierter Zugang
Wenn von Sozialpartnerschaft im engeren Sinne gesprochen wird, ist ein darüber hinausgehendes Politikmuster gemeint, das in den 1960er und 1970er Jahren seinen Höhepunkt hatte: Die Verhandlung zentraler Themen der Fiskal-, Arbeitsmarkt-, Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik durch die Verbände selbst – mit der begründeten Erwartung, dass diese breit abgesicherten Kompromisse und „package deals“ von Regierung und Parlament übernommen werden. Die Bedeutung dieses Politikmusters ging seit den 1980er Jahren allerdings deutlich zurück, und auch zu ihrer besten Zeit bildete die Bezeichnung der Sozialpartner als „Nebenregierung“ einen allerdings bis heute unausrottbaren Mythos. Dessen realer Kern besteht nicht in einer gemeinsamen Regierung der Verbände (die Breite der Politikfelder wurde auch in den siebziger und achtziger Jahren überschätzt), sondern in der teilweise bis heute vorhandenen innerparteilichen Vetomacht der Einzelverbände innerhalb jeder der Großparteien.
Das sozialpartnerschaftliche Politikmuster hat einerseits große Meriten: es bedeutet die unkomplizierte Zugänglichkeit der PolitikerInnen für Unternehmen und GewerkschafterInnen, und es führte zur Dominanz von gemeinsamen Brancheninteressen (statt der Interessen einzelner Unternehmen) im politischen Entscheidungsprozess, die gegebenenfalls mit anderen Branchen und ArbeitnehmerInnen-Interessen abgestimmt wurden. Der Nachteil war stets ein sehr elitenzentrierter Entscheidungsmodus: letztlich wurden die Kompromisse an den Verbandsspitzen (mit der Regierung) getroffen, das Parlament blieb als eigene Institution stets bemerkenswert schwach. Die Sozialpartner haben ihre beste Zeit zudem längst hinter sich: die Spielräume nationalstaatlicher Wirtschaftspolitik sind seit den achtziger Jahren stark geschrumpft, die Repräsentativität der Verbände ist (trotz Pflichtmitgliedschaft in den Kammern) deutlich zurückgegangen. Der ÖGB ist nur mehr im öffentlichen Sektor und großen Betrieben (die allerdings unter starkem internationalen Wettbewerbsdruck stehen) tatsächlich konfliktfähig – Interessen, die etwa im Bereich der Schul- oder der Bahnpolitik oft konträr zu wünschenswerten Reformen stehen. Auf Unternehmerseite vertreten seit den 1990er Jahren Großunternehmen ihre Interessen in zunehmendem Ausmaß unmittelbar (ohne Umweg über die Wirtschaftskammern) gegenüber Regierung, Parlamentariern und der Verwaltung – oder überhaupt gleich auf der EU-Ebene. Der Bedeutungsgewinn der Industriellenvereinigung (die offiziell nicht als Sozialpartner gilt und sich viel stärker als die Wirtschaftskammer lobbyistischen Interessen einzelner Mitglieder verschreiben muss) gibt dafür ebenso Belege wie die Versuche der ehemaligen Parteichefs Schüssel und Gusenbauer, den innerparteilichen Einfluss der Wirtschaftskämmerer und Gewerkschafter zurückzudrängen. Nicht ohne Grund steht derzeit der Versuch auf der politischen Tagesordnung, das weite Feld des Lobbyismus (und seine teilweise auch korrupten Auswüchse) durch ein Lobbyistengesetz transparenter zu machen. Die wichtigsten – und noch am besten demokratisch legitimierten – LobbyistInnen werden aber in absehbarer Zeit weiterhin die Sozialpartner bleiben. Sakrosankt ist aber auch ihre Rolle längst nicht mehr.
Zur Person:
Hubert Sickinger, 1965 geboren, ist Doktor der Rechtswissenschaft und der Politikwissenschaft. Er arbeitet am Institut für Konfliktforschung (IKF) in Wien, ist Mitglied von Transparency International Österreich und Autor zahlreicher Publikationen. Zuletzt das Standardwerk: Politikfinanzierung in Österreich, Czernin Verlag 2009.