Der Vier-Stunden-Arbeitstag
„Soziale Bewegungen sind unausweichlich“
Die Soziologin Frigga Haug über eine radikale Arbeitszeitverkürzung auf vier Stunden, ihre Theorie der Vier-in-Einem-Perspektive und die allgemeine Feminisierung von Arbeit.
Interview: Pascal Jurt. Fotos: Argument Verlag
Wir erleben eine Entwicklung, in der Arbeit und Leben zunehmend entgrenzt werden. Zugleich aber fallen auf problematische Weise Arbeit und Freizeit immer mehr ineinander. Glauben Sie, dass die Schärfung des Begriffs der Prekarisierung zum Verständnis alter und neuer Unsicherheiten kapitalistischer Vergesellschaftung beitragen kann?
Die Strategie des Abwartens war gewiss äußerst problematisch. Arbeitszeitverkürzung wurde nicht thematisiert, weil es doch um die Sicherung von Arbeitsplätzen ging. Die Diskurse um immaterielle und postfordistische Wissensarbeit finde ich bis heute eher verwirrend und nicht geeignet, die anstehenden Fragen zu beantworten. Schließlich geht es ganz brutal darum, dass der zunehmende Reichtum der Arbeit ganz den Kapitaleignern zu geschoben wurde. Das heißt, dass die Produktivkräfte soweit entwickelt wurden, dass nur mehr ein Bruchteil notwendiger Arbeit für die Reproduktion der Gesellschaft nötig ist. Die Arbeitszeiten blieben stabil oder wuchsen und infolgedessen wurden Arbeitskräfte nicht reicher, sondern entlassen. Ein Heer von ‚Überschüssigen’ wurde als Druckmittel gegen die schrumpfende Anzahl der Erwerbstätigen genutzt. In dieser Weise konnten die Standards und die Ansprüche der Arbeitenden gesenkt werden. Jetzt muss man froh sein, überhaupt eine Arbeit zu bekommen. Diese Lage nutzt die Kapitalseite, um das Heer der Prekarisierten zugleich zu vermehren und botmäßig zu halten, Zeitverträge und Hartz IV allenthalben als Durchschnitt für die Zukunft durchzusetzen. Mehr als einen exakten Begriff von Prekarisierung brauchen wir eine radikale Arbeitszeitverkürzung und damit einen Arbeitsplatz von vier Stunden für alle als Menschenrecht.
Jüngst hat die gesellschaftliche Polarisierung von Armut und Reichtum dazu beigetragen, das Interesse an der Prekarisierung spürbar zu erhöhen. Betrifft soziale Unsicherheit, Leiharbeit, latente und manifeste Armut und das Workfare-Regime zunehmend auch die Mitte der Gesellschaft?
Das ist einer der besseren Effekte der großen Krise, dass sich die Erkenntnis durchsetzt, dass, wie es der Herausgeber der FAZ schrieb, die Linke doch recht hatte mit ihrer marxistischen Analyse des Kapitalismus. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass die Ungerechtigkeit in Bezug auf die wachsende Armut und der noch schneller wachsende Reichtum einiger so schreiend ist, dass soziale Bewegung unausbleiblich ist.
So sehr die Prekaritäts- und Exklusionsforschung die objektive gesellschaftliche Lage von Subalternen auch erhellt, oft gehen die subjektiven Dimensionen von prekarisierten AkteurInnen verloren. Wie sehen sie das?
In Deutschland arbeitet das Institut für Soziologie um Klaus Dörre in Jena an einer Erweiterung der Theorie der Landnahme. Ferner sind für diese ungeheure zweite Enteignung der Arbeiterklasse, manchmal auch zweite ursprüngliche Akkumulation genannt, vielleicht andere Formen der Verarbeitung und des Engagements geeignet. Ich erinnere etwa an den Roman von Joachim Zelter, Schule der Arbeitslosen, der aufs Klarste die verschiedenen Folgen herausstellt, wie es eindrücklicher keine Statistik und Sozialanalyse hinbekommt. Oder aber an Filme, die sich des Themas annehmen. Was fehlt, ist aber eine Politik, die das Menschenrecht auf Arbeit durchsetzt. Und zwar kurze und gute, menschenwürdige Arbeit.
Frauen sind nicht nur durch eine verstärkte Kapitalisierung des Reproduktionsverhältnisses, sondern auch durch die unbezahlte Reproduktionsarbeit sprichwörtlich „doppelt belastet“ und von Armut gefährdet. Sie analysieren die Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse. Inwieweit kann Ihr feministischer Ansatz den Blickwinkel auf Arbeit erweitern?
Nochmal: Ich ziehe es vor, nicht von einer Erweiterung des Arbeitsbegriffs zu sprechen, was – mir unverständlich – soviel Gegenwehr und Angst hervorgerufen hat, sondern schärfer und offensiver von einer Wiederaneignung des Arbeitsbegriffs. Das bedeutet, dass Arbeit auch begrifflich aus den Fesseln der Lohnarbeit zu befreien ist, wie der Kampf für die Arbeitenden, ja nicht der Verewigung der Lohnarbeitsverhältnisse gilt, sondern einer alternativen Gesellschaft. Meine feministischen Studien und Kämpfe von fast 40 Jahren haben mich dazu gebracht, die „Vier-in-einem-Perspektive“ zu entwickeln, die die verschiedenen gesellschaftlichen Arbeiten zum Ausgangspunkt nimmt, um von daher eine Politik vorzuschlagen, die real und heute ansetzt, aber eine Perspektive hat, die auf eine alternative Gesellschaft anzielt. Es geht um jene Arbeiten, die jetzt in Lohnform geschehen, dann diejenigen, die der Reproduktion aller zukommen, also die pflegende fürsorgende Arbeit mit Menschen, die Freunde, Alte, Behinderte, Kranke, Kinder umfasst, um die der Eigenentwicklung aller Fähigkeiten, wodurch die gesamte Menschheit reicher wird und schließlich darum, die Gesellschaftsgestaltung in eigene Hände zu nehmen, was wir Politik nennen. Mein nächstes Buch wird der „Tragödie der Arbeit“ gewidmet sein.
Vor allem Teilzeitarbeit mit ihrem geringen sozialen Standard hat seit den 1980er Jahren zugenommen und betrifft Frauen, die knappe Familieneinkommen aufbessern müssen. Warum gibt es so wenig politische Anstrengungen, Teilzeitarbeit auch für Männer attraktiv zu machen?
Das halte ich für eine revolutionäre Forderung. Sie verallgemeinert das Besondere und ist damit geeignet auch das Abzulehnende von Teilzeitarbeit öffentlich zu besprechen und damit zu verändern. Ich habe schon eine Kampagne dazu begonnen. Sie ist umstritten und zugleich gehört sie zum Projekt der Vier-in-Einem-Perspektive, nach der ja alle nur mehr vier Stunden arbeiten sollten. Es ist nicht leicht, der Angst, alle würden dann auch nur vom halben Entgelt leben müssen, wirksam zu begegnen. Es muss also diese Kampagne mit der Forderung nach einem Grundeinkommen, besser nach den sozialen Garantien des Lebens, wie dies Rosa Luxemburg ausdrückt, begleitet werden. Ich habe das letzte Soziaforum mit dieser Forderung eröffnet. Derzeit läuft in der LINKEN in Nordrhein-Westfalen eine Kampagne dazu. In der Tat setzt sich allmählich auch in der herrschenden Politik durch, dass Zeitkämpfe angesagt sind. Sowohl SPD, CDU und Grüne bewegen sich in die Zeitpolitik, einzelne Gewerkschaften fordern jetzt die 30-Stundenwoche, was nicht dasselbe ist, aber ein Schritt in die richtige Richtung.
Unter der rot-grünen Regierung kam es mit den Hartz-Regelungen in Deutschland zu einer repressiven Aufwertung von Arbeit. Gesellschaftliche Teilhabe wurde nun direkt an einen „gemilderten“ Arbeitszwang geknüpft, Leute in unsichere und prekäre Beschäftigungsverhältnisse gedrängt, Minijobs und Leiharbeit boomen seitdem. Wie hat sich die Situation für Frauen mit der Einführung der „Hartz-Reformen“ verändert?
Nicht der „Zwang“ zur Arbeit ist ganz und gar abzulehnen, denn ein Menschenrecht auf Teilhabe und also auch an gesellschaftlich notwendiger Arbeit gehört doch zu den Forderungen für ein würdiges Leben. Aber die mit Hartz durchgesetzten Verhältnisse führen ja keineswegs zum Recht auf sinnvolle Arbeit und Teilhabe an Gesellschaft, sondern zu unwürdigem Lebens- und Zeitverbrauch bei steigender Armut und einer Art Verwahrlosung kulturellen Lebens und einer Annullierung politischen Lebens für alle. Die Kluft zwischen der Forderung nach allseitiger Entfaltung aller Möglichkeiten und dem einen Euro, den unsere Regierung dafür für die Kinder der Hartz-Empfänger vorsieht, wird schon im Denken kaum überbrückbar. Das gilt in eklatantem Maß für Frauen, die auf allen unteren Ebenen den größten Anteil haben. Ihre bislang kaum skandalisierte Nutzung als teilzeitarbeitende Lückenfüller haben nicht nur ihre eigenen Ansprüche praktisch im Zaum gehalten – sie haben auch dafür gesorgt, eine allgemeine „Feminisierung der Arbeit“ durchzusetzen in der Weise, dass das, was Frauen Jahrzehnte zugemutet wurde, nun auch im Namen von Gleichstellung für Männer gelten kann. Da die Ansprüche, sich ‚beschäftigungsfähig’ zu halten, stets wachsen, kann man von einer Reproduktionskrise sprechen, weil die umfassende Sorge auch für die Nachwachsenden nicht mehr gewährleistet ist.
KASTEN ZUR PERSON:
Frigga Haug, 1937 in Mühlheim an der Ruhr geboren, forschte u. a. zu Themen der Frauenpolitik sowie Arbeit und Automation. Sie hatte eine Professur für Soziologie an der Universität für Wirtschaft und Politik in Hamburg inne und veröffentlichte zahlreiche Publikationen u. a. über Marxismus, Feminismus, Kritische Psychologie. Sie war Redakteurin der Zeitschrift „Das Argument“, Mitglied der Ostermarschbewegung, des Frauenbundes, Mitbegründerin des Forums sozialistischer Feministinnen. Sie ist heute u. a. Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Vorsitzende des Berliner Instituts für kritische Theorie. 2010 firmierte sie als Ko-Herausgeberin von „Arbeiten wie noch nie!? Unterwegs zur kollektiven Handlungsfähigkeit.“