Martin Schenk über ein verblüffendes Experiment mit Kindern. Regierung in der Einbahnstraße.
Was dachte der Postbote?
Puzzle heißt Jigsaw. Und Jigsaw ist ein erstaunliches Experiment: Wie Kinder in einer Klasse lernten, sich auf Basis von Kooperation neu zueinander zu positionieren. Eine Kolumne von Martin Schenk
Das Jigsaw-Experiment sucht sich ein konfliktreiches Feld. SchülerInnen werden in verschiedene Lerngruppen geschickt, bestehend aus jeweils sechs Personen. Was es zu lernen gilt, wird in sechs Abschnitte unterteilt, von denen jede/r einen übernimmt. Jede/r Schülerin lernt nun einen Teil und versucht ihn den anderen beizubringen. Wie ein Puzzle müssen die Teile zusammengefügt werden, damit ein Gesamtbild entsteht. Von einer Geschichte oder einer Chemie-Aufgabe gibt es nun sechs Teile, die vermittelt gehören. In von Konkurrenz geprägten Klassenzimmern geht es allein darum, dem Lehrer zu zeigen, wie klug man ist. Man braucht den MitschülerInnen auch nicht viel Aufmerksamkeit schenken. In der Jigsaw Klasse müssen die SchülerInnen einander zuhören, um etwas zu lernen. Peter muss auf Maria und auch auf Gülten genau achten, um die für ihn wichtigen Informationen zu bekommen. Wenn Haki im traditionellen Unterricht aus Angst und Unbehagen Schwierigkeiten hat, etwas vorzutragen, können ihn die anderen leicht ignorieren – und sogar demütigen. Hat Haki jedoch in der Jigsaw-Klasse diese Probleme, liegt es im Interesse seiner MitschülerInnen, ihn zu ermutigen und ihm zu helfen, damit er sein Wissen Preis gibt. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Verglichen mit traditionellen Klassen war bei der Jigsaw-Gruppe eine Abnahme von Ablehnung und eine Zunahme von Sympathie für die Mitglieder ihrer Arbeitsgruppe – unabhängig von deren ethnischer Herkunft – festzustellen.
Nun wurde den Kindern aus der Jigsaw-Gruppe und jenen aus traditionellen Klassen eine Reihe von Cartoons gezeigt. Auf dem ersten Bild war ein kleiner Bub zu sehen, der traurig seinen Vater am Flughafen verabschiedet. Am zweiten Cartoon bringt ein Postbote dem Buben ein Paket. Das dritte Bild zeigt wie der Bub das Paket öffnet, darin ein Spielflugzeug findet und in Tränen ausbricht. Nun wurden die Kinder gefragt, warum der Bub weint. Fast alle sagten richtig, „weil das Flugzeug ihn an seinen Vater erinnert.“ Dann stellten die ForscherInnen die entscheidende Frage: „Was dachte der Postbote, als er sah, wie der Bub das Paket öffnete und in Tränen ausbrach?“
Die meisten Kinder machen den Fehler, zu meinen, dass der Postbote auch wissen muss, was sie wissen. Die Kinder aus der Jigsaw-Gruppe reagierten jedoch anders. Sie meinten, dass der Briefträger sich wohl nicht auskenne, warum der Bub bei einem so schönen Geschenk weint, er wisse ja nichts von der Abschiedszene am Flughafen. Sie waren in der Lage die Sache aus der Perspektive des Postboten zu betrachten.
Es gilt: Wo die Kontrolle über das eigene Leben bedroht ist und wo in Konkurrenz um den eigenen Status gekämpft werden muss, dort wachsen Minderheitenfeindlichkeit und Hass. Gilt aber Kooperation und das Prinzip der Gegenseitigkeit, gehen die Ängste zurück.