Braucht es ein neues Lichtermeer?
Das Lichtermeer vor 20 Jahren war die größte Massen- kundgebung der Zweiten Republik. Es brachte einen Schub für das zivilgesellschaftliche Bewusstsein. Gut möglich, dass wir wieder so ein Meer an Zivilcourage brauchen. Kommentar: Alexander Pollak
André Heller erinnert sich an das Lichtermeer mit folgenden Worten: „Die Leute sind aus allen Richtungen der Windrose ge- kommen. Es waren junge und alte und behinderte, gnädige Herren und Damen aus den höchsten und niedersten Kreisen. Es hat in einer vorher in diesem Land unge- wohnten Weise eine Ermutigung ausgestrahlt: Sich nicht fügen macht einen Sinn, und wir können etwas tun, das nicht lächerlich ist. Und da hat auch alles funktioniert. Es war irgendwie gesegnet. Es ist, wie wenn ein Lavastrom sich ergießen würde, der eine Hitze ausstrahlt, die die Ambition hat, eine gewisse Art der Eiseskälte und des Zynismus zum Schmelzen zu bringen.“ 300.000 Menschen sind bei besagtem Lichtermeer auf die Straße gegangen, um ein Zeichen zu setzen. „Gegen diesen Wahnsinn an nationalsozialistischer Verharmlosung, Ausländerfeindlichkeit und schrecklicher Flücht- lingspolitik“, so Josef Haslinger, ein anderer Mitinitiator.
Wer jedoch erwartet hatte, dass mit der größten Massenkundgebung der Zweiten Republik alles anders werden würde, wurde bitter enttäuscht. Das Lichtermeer bedeutete weder das Ende der Wahlerfolge der FPÖ noch einen Siegeszug menschlicher und kluger Asyl- und Integrationspolitik. Dennoch hatte sich etwas bewegt. Es war kein Zufall, dass mit Caspar Einem zwei Jahre nach dem Lichtermeer ein etwas anderer Innenminister ans Ruder kam. Auch nicht, dass zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen entstanden. SOS Mitmensch war an der Geburt einiger mitbeteiligt.
Wer sich also die ständige Verschärfungsrhetorik im Asyl- und Migrationsbereich vor Augen führt, könnte leicht übersehen, dass es zugleich teils spektakuläre Erfolge in der Menschenrechtsarbeit gegeben hat. Heute ist es so nicht mehr denkbar, dass Asylsuchende im Winter auf der Straße stehen. Dass es keine Chance auf ein Bleiberecht für Menschen gibt, die bereits lange in Österreich verweilen. Dass eine Antirassismus-Hotline fehlt, an die sich Betroffene und Zeugen wenden können. Dass die FPÖ die einzig treibende Kraft in der Integrationsdebatte ist. Dass es keinen lokalen Widerstand gegen die Abschiebung von Personen gibt, die in ihrer Umgebung Fuß gefasst haben. Oder dass bei Polizeirassismus einfach weggeschaut wird.
Organisationen wie SOS Mitmensch und viele andere haben dafür gesorgt, dass reagiert wird, wenn Unrecht geschieht; dass Menschenrechte nicht nur verteidigt, son- dern aktiv eingefordert werden; und dass über erfolgreiche „menschenfreundliche“ Kampagnen Druck auf die Regierung aus- geübt wird.
Genug Engagement in diese Richtung gibt es aber immer noch nicht. Denn die politische Richtung, in die sich Österreich bewegt, ist nach wie vor heftig umkämpft. Die Regierung zeichnet sich vielfach durch unsicheres Nichthandeln aus. Das Geschäft mit der Angst garantiert weiterhin WählerInnenstimmen – und hätte schlimme Auswirkungen, gäbe es nicht ein starkes menschenrechtliches Gegengewicht.
Vielleicht braucht es ja irgendwann wieder ein Lichtermeer. Vielleicht kommt wie- der der Tag, an dem sich Hunderttausende auf die Straße bewegen, um ein eindrucks- volles Zeichen zu setzen. Angesichts einer Politik, die immer wieder zu populistischen Nichtlösungen mit menschenfeindlichem Einschlag neigt, braucht es eines aber auf jeden Fall: ein Meer an Zivilcourage, das sich selbstbewusst für ein offenes und gleichberechtigtes Österreich und Europa einsetzt!