Philipp Sonderegger Kundgebung heißt jetzt Flashmob
Demokratie wird zur Fassade, wenn ihre BürgerInnen die Fähigkeit verlernen, Interessen politisch wirksam zu organisieren. UM DIE ECKE GEDACHT MIT PHILIPP SONDEREGGER Illustration: Petja Dimitrova
Eineinhalb Millionen ÖsterreicherInnen waren in den 90er Jahren Mitglied einer Partei. 20 Jahre später ist den Parteien zumindest jedes dritte Mitglied abhanden gekommen. Das Vertrauen in die Parteien liegt am Boden. Die steigende Unlust, sich in Institutionen zu engagieren, spüren auch Kirchen, Gewerkschaften und NGOs.
Die längerfristige Bindung an eine Organisation ist aus der Mode gekommen. Die Generation Facebook steht auf spontane und lose Formen des Engagements. Kundgebungen heißen heute Flashmob (auch wenn sie lange angekündigt sind). Das signalisiert der Internetgemeinde maximale Unverbindlichkeit. Standkundgebung mit mehrstündigen Redebeiträgen und starre Abläufe in Institutionen wirken auf Social-Media-Sozialisierte wenig ansprechend. Junge Parteimitglieder sind nicht mehr bereit, Flyer zu verteilen, um in Bezirkssitzungen ernst genommen zu werden.
Auf Facebook haben sie es anders gelernt: heute die Anti-Atom-Petition, morgen für Flüchtlinge. Je nach Lust und Laune dort ein Kommentar und da eine Petition. Dezentrale Schwarmkampagnen wie die „Uni brennt“-Bewegung sind für viele attraktiver als von NGOs organisierte Kampagnen: weil sie dynamischer sind und ihre Hierarchien weniger starr. Wenn keine Energie in die Aufrechterhaltung des Apparats geht, kommt man schneller zum Handeln.
Allerdings: Jene, die für Gewerkschaften und Parteien nichts als Häme aufbringen, müssen sich die Frage gefallen lassen, ob ihre Haltung nicht der neoliberalen Ideologie Vorschub leistet, welche soziale und ökonomische Krisenerscheinungen zur persönlichen Verfehlung vereinzelt und wirksame Gegenwehr demobilisiert. Geht nicht die Delegitimierung von Gewerkschaften mit einer sinkenden Lohnquote einher? Folgt nicht auf die Schwächung der Parteien die Übermacht der Konzerne? Insbesondere emanzipative Politik und der Schutz der Menschenrechte sind auf starke Institutionen angewiesen. Organisationen sind Speicher von Macht, sie halten Wissen und Ressourcen verfügbar. Sie kanalisieren spontanes Handeln in kollektive Formen. Die Energie, die vorne als mühselige Einordnung hineingeht, kommt hinten als Professionalität und Nachhaltigkeit wieder heraus: Eine NGO lernt nicht jedes mal aufs Neue, wie Kundgebungen organisiert und EntscheiderInnen bearbeitet werden. Die Forderungen der Gewerkschaft sitzt die Bildungsministerin nicht so leicht aus wie die der Audimax-BesetzerInnen. Gewerkschaften, NGOs und Parteien machen kaum Spaß. Sich wirksam in ihnen zu bewegen erfordert Ausdauer und Disziplin. Die Ablehnung institutioneller Organisation bedeutet allerdings, sich einer Möglichkeit zu berauben, partikulare wie universelle Anliegen durchzusetzen. Demokratien werden zur Fassade, wenn ihre BürgerInnen die Fähigkeit verlernen, Interessen politisch zu organisieren.