Direkte Demokratie nicht mythisch überhöhen
Was bedeutet es für ethnische Minderheiten, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten entscheidet anstatt gewählte PolitikerInnen? Stehen Minderheiten dann schlechter da? Die Politologen Dominik Hangartner und Jens Hainmueller untersuchten diese Frage anhand der Vergabe von Staatsbürgerschaften in der Schweiz. Interview: Peter Meier
Sie haben im Rahmen eines Projekts des Schweizer Nationalfonds untersucht, ob Menschen je nach Herkunftsland unterschiedliche Chancen haben, eingebürgert zu werden. Wie sieht eigentlich der Einbürgerungsablauf in der Schweiz aus?
In der Schweiz müssen sich MigrantInnen in ihrer Wohngemeinde um eine Einbürgerung bewerben. Die Gemeinden entscheiden erst danach über das Einbürgerungsgesuch und benutzen dafür unterschiedliche Institutionen. Einige Gemeinden kennen ein direkt-demokratisches Verfahren, um über individuelle Einbürgerungsanträge zu entscheiden, andere delegieren diese Entscheide an gewählte PolitikerInnen oder spezialisierte Kommissionen. Im ersten Teil unseres Projektes haben wir untersucht, wie es MigrantInnen ergeht, wenn über ihre Einbürgerungsanträge an der Urne direktdemokratisch entschieden wird. Wenn also die WählerInnen einer Gemeinde entscheiden. Dafür haben wir Daten über mehr als 2400 Einbürgerungsanträge von 1970 bis 2003 untersucht.
Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Die Daten zeigten, dass sich die Erfolgschancen der direkt entschiedenen Gesuche je nach Eigenschaften der AntragstellerInnen stark unterschieden. Jene Eigenschaft, die mit Abstand den stärksten Einfluss auf die Erfolgschancen hatte, war das Herkunftsland. Andere ‚Eigenschaften’ wie Sprachkenntnisse, der Grad der Integration oder ökonomische Leistungsausweise hatten kaum Einfluss. So ist auch erklärbar, dass beim direktdemokratischen Verfahren Einbürgerungsanträge von Personen aus der Türkei und Ex-Jugoslawien zehn Mal so oft abgelehnt wurden wie vergleichbare Gesuche aus Italien oder Spanien.
Heißt das, direktdemokratische Instrumente führen zu einer Benachteiligung von so genannten ethnischen Minderheiten?
Das lässt sich definitiv mit Ja beantworten. Im zweiten Teil des Projekts haben wir untersucht, ob es sich mit Einbürgerungsanträgen, über die gewählte PolitikerInnen entscheiden, anders verhält. Dazu haben wir Registerdaten von über 1400 Schweizer Gemeinden für die Jahre 1991 bis 2009 ausgewertet. Anfang der 1990er-Jahre wurden Einbürgerungsanträge in 80 Prozent der Gemeinden mit direkter Demokratie entschieden. Im Zuge einiger Grundsatzentscheide des Schweizerischen Bundesgerichts wechselten kurz nach der Jahrtausendwende aber mehr als 600 Gemeinden zum System der repräsentativen Demokratie.
Wie hat sich diese Umstellung ausgewirkt?
In den vier Jahren vor dem Wechsel gab es keine differentiellen Veränderungen in den lokalen Einbürgerungsraten. Aber sobald die Gemeinden von direkter zu repräsentativer Demokratie wechselten, stiegen die Einbürgerungsraten im ersten Jahr schlagartig um 50 Prozent und um mehr als 100 Prozent in den folgenden Jahren an. Je nach Herkunftsland der AntragstellerInnen variierte der Anstieg signifikant: Bei stärker marginalisierten Einwanderungsgruppen war die Zunahme der Einbürgerungsrate viel höher, als bei weniger marginalisierten. So stieg beispielsweise die Einbürgerungsrate für Antragstellende aus der Türkei um 68 Prozent und für solche aus Ex-Jugoslawien sogar um 75 Prozent an. Die Rate bei Menschen aus Italien nahm jedoch nur um 6 Prozent zu.
Welche Gründe sehen Sie dafür, dass Gemeinderäte und Parlamente mehr Gesuchen zustimmen als die StimmbürgerInnen? Liegt es daran, dass es vor allem Gemeindeversammlungen in konservativen Gemeinden sind, die über Einbürgerungen entscheiden?
Das ist tendenziell zwar so, kann aber die zitierten massiven Anstiege nach dem Transfer von den Gemeindeversammlungen zu den gewählten PolitikerInnen nicht erklären. Es handelt sich ja um die gleiche Gemeinde.
Entscheidend ist die größere Rechenschaftspflicht gewählter Gremien: Wenn ein Einbürgerungsantrag vorliegt, kann man als BürgerIn an der Urne mit Ja oder Nein stimmen, ohne das rechtfertigen zu müssen. Anders bei den gewählten VertreterInnen: Sie müssen bei Ablehnung eines Einbürgerungsantrages eine schriftliche, stichhaltige und eventuell rekursfähige Begründung abgeben. Diese Begründungspflicht macht es massiv schwieriger, Gesuche in diskriminierender Weise abzulehnen – und unserer Ansicht nach den entscheidenden Unterschied zwischen direkter und repräsentativer Demokratie aus.
Sprechen diese Ergebnisse nicht dafür, mit direktdemokratischen Abstimmungen vorsichtig umzugehen? Derzeit wird auch in Österreich und Deutschland mehr direkte Demokratie gefordert. Wie sehen Sie das grundsätzlich?
Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass man die direkte Demokratie bei all ihren Vorteilen nicht mythisch überhöhen sollte. Dennoch wird die direkte Demokratie, meiner Ansicht nach zu Recht, häufig als die demokratischste und legitimste Herrschaftsform gelobt. Und ich denke auch, dass es in zahlreichen Politikbereichen – sei es bei der Errichtung eines unterirdischen Bahnhofs, beim Betritt zum Europäischen Wirtschaftsraum, beim Bau eines Atomkraftwerks oder bei der Abschaffung der Armee – Sinn macht, die betroffenen BürgerInnen selbst entscheiden zu lassen.
Gleichzeitig ist aber sicherzustellen, dass die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte – und in unserem Kontext ist das vor allem die Antidiskriminierungsklausel – nicht in Frage gestellt werden können. Insbesondere bei individuellen Einbürgerungsentscheiden, die wohl eher einem Verwaltungsakt denn einem genuin politischen Entscheid zuzuordnen sind, scheint es angezeigt, die Entscheidungsgewalt gewählten PolitikerInnen oder spezialisierten Kommissionen zu übertragen, um das Risiko diskriminierender Ablehnungen zu minimieren.