Wir sind völlige Anfänger. Martin Schenk über die Beziehung von Menschen.
David Bowie trifft Hannah Arendt. Vom zur Welt kommen und zur Welt bringen. Eine Kolumne von Martin Schenk. Illustration: Petja Dimitrova
Wir sind völlige Anfänger. David Bowie hat in Berlin den Soundtrack dazu verfasst. „I am an absolute beginner“ – immer wieder irgendwo bei irgendwas. Das ist hilfreich, tröstlich, motivierend und gut gegen Überheblichkeit.
Und es ist eine geheimnisvolle Kraft.
Das kann man bei den Expertinnen des Anfangs sehen, den Hebammen. Sie helfen etwas zur Welt zu bringen, ohne selbst zu gebären. Sie sind Begleiterinnen, wenn etwas neu geboren wird. Sie unterstützen, sorgen, begleiten, horchen. Das ist eine ungeheuer wichtige Tätigkeit, die in vielen Bereichen hilfreich ist: in allen Berufen, die mit Menschen zu tun haben – von der Jugendhilfe bis zur Altenpflege, besonders aber in der Schule. LehrerInnen sind eigentlich Hebammen: Gute Bedingungen fürs Lernen zu schaffen und zu helfen, dass SchülerInnen für sich etwas zu Wege und zur Welt bringen. Der Blick auf die Tätigkeit der Hebamme zeigt, welche Kraft es hat, zu assistieren, zu unterstützen, in Beziehung zu leben.
Der Anfang ist immer zentral. Eine liebevolle Bindung zwischen Eltern und Kind legt den Grundstein für ein gutes Aufwachsen. Wir brauchen den anderen, um zu uns selbst zu kommen. Kinder mit sicherer Bindung sind selbstbewusster, weniger depressiv und haben größeres Einfühlungsvermögen. Niemand ist das, was er ist, ohne die sorgenden und unterstützenden Tätigkeiten anderer. Von Geburt an. Dass Menschen einander brauchen ist der menschliche Normalzustand.
Die Philosophin Hanna Arendt spricht von einer zweiten Geburt. „Nackt geboren in eine Welt können wir sprechend und handelnd Initiativen ergreifen und gleich einer zweiten Geburt unser Geborensein bestätigen.“ Als Hannah Arendt auf der Flucht vor den Nazis war, kam ihre diese „zweite Geburt“ in den Sinn. Als Vertriebene, ohne Reisepass, die sie im Niemandsland zwischen dort und da geworden war, erkannte sie, dass ihre nackte Geburt ihr keine Rechte sichert. Sie war vogelfrei, der „Herrschaft des Niemand“, wie sie die Behörden bezeichnete, ausgeliefert. Erst diese zweite Geburt, der sprechende und handelnde Eintritt in die Welt, stattet uns mit Rechten aus. Das ist eine Erfahrung, die Vertriebene und Rechtlose auch heute machen. Es ist diese zweite Geburt, die Menschenrechte an uns bindet, die Verträge und Grundrechte zur Welt bringt. Durch Erkämpfen, durch Erringen, durch Verhandeln.
Ohne Anfangen geht gar nichts. We are absolute beginners. Sollen in dieser zweiten Geburt soziale und politische Rechte zur Welt kommen, braucht es auch diejenigen, die sie zur Welt bringen. Und jene, Hebammen gleich, die helfen, etwas zur Welt zu bringen, ohne selbst zu gebären.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.