Wenn der Staat Armut produziert
Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich BürgerInnen, die es sich leisten können, soziale Sicherheit, während der postmoderne Sozialstaat nur noch Minimalleistungen, euphemistisch „Grundsicherung“ genannt, bereitstellt. Ein Paradigmenwechsel ist gefragt.
Text: Christoph Butterwegge. Illustration: Eva Vasari
Die US-Amerikanisierung des Sozialstaates führt nicht nur zu einer veränderten Sozialstruktur, sondern auch zu einer Kultur der Kontrolle mit einem rigiden Armutsregime.
Wie bereits John Maynard Keynes anmerkte, gleicht der moderne Kapitalismus einem Spielkasino, in dem es zahlreiche VerliererInnen, darunter besonders viele Frauen, und nur wenige GewinnerInnen gibt – darunter befinden sich in aller Regel die Banken. Das gilt nicht bloß für den im Kasinokapitalismus ausufernden Finanzsektor, also Großbanken und Versicherungskonzerne, sondern für sämtliche Lebensbereiche. Aufgrund der trotz unübersehbarer Krisensymptome in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft fortbestehenden neoliberalen Hegemonie, d.h. der öffentlichen Meinungsführerschaft des Marktradikalismus, wird die wachsende soziale Ungleichheit zum Kardinalproblem der Gesellschaftsentwicklung und zur politischen Achillesferse der Demokratie.
Der Münchner Soziologe Ulrich Beck sprach in seinem 1986 erschienenen, bis heute viel zitierten und weit über den Wissenschaftsbereich hinaus einflussreichen Buch „Risikogesellschaft“ von einem sozialen „Fahrstuhl-Effekt“, der alle Klassen und Schichten nach dem Zweiten Weltkrieg eine Etage höher gefahren habe. 20 Jahre später sah Beck die Bundesrepublik, obwohl sie noch nie so reich war wie damals (übrigens als eine „Gesellschaft des Weniger“, d.h. weniger Arbeitsplätze, weniger soziale Sicherheit, usw.) auf der sozialökonomischen Talfahrt: „Jetzt, am Beginn des 21. Jahrhunderts, lauern überall Gefahren – und der Fahrstuhl bewegt sich nach unten.“ Dabei übersah der Münchner Soziologe allerdings erneut, dass sich Gesellschaften nicht gleichförmig entwickeln und ein Paternoster-Effekt dominiert: In demselben Maße, wie die einen nach oben gelangen, geht es für die anderen nach unten. Mehr denn je existiert im Zeichen der Globalisierung bzw. der neoliberalen Modernisierung ein soziales Auf und Ab, das Unsicherheit und Existenzangst für eine wachsende Zahl von Menschen mit sich bringt.
Das Ende des europäischen Sozialmodells
Mancherlei ökonomische Anzeichen deuten darauf hin, dass die Armutsrisiken für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in nächster Zeit drastisch zunehmen. Die wachsende Armut wird die politische Agenda der europäischen Staaten im Gefolge der Weltfinanzwirtschaftskrise 2008/09 vermutlich stärker als je zuvor bestimmen, was die Chancen für einen stärker an der gesellschaftlichen Realität orientierten Diskurs erhöht. Das drängende Problem einer zunehmenden sozialen Ungleichheit, die den inneren Frieden und die Demokratie zu gefährden droht, lässt sich kaum mehr vertuschen, verharmlosen oder verdrängen. Unabhängig von Wahlkämpfen und parteitaktischen Winkelzügen sollte es die Öffentlichkeit über einen längeren Zeitraum bewegen. Denn die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe dürften sich zuspitzen, wenn über Jahre hinweg die Frage im Raum steht, wer die Kosten der Finanzmarktkrise und der Bankensanierung tragen muss.
Ohne die Lage zu dramatisieren, kann man prognostizieren, dass es auch in den reichen Ländern Europas künftig eher mehr als weniger Armut geben wird. Selbst viele Vollzeitarbeitsverhältnisse reichen nicht mehr aus, um eine Familie zu ernähren, sodass ergänzend ein oder mehrere Nebenjobs übernommen werden und nach Feierabend bzw. an Wochenenden (zum Teil schwarz) weitergearbeitet wird. Mit der US-Amerikanisierung des Sozialstaates geht womöglich nicht nur eine US-Amerikanisierung der Sozialstruktur (Polarisierung von Arm und Reich sowie Pauperisierung großer Teile der Bevölkerung und Prekarisierung der Lohnarbeit), sondern auch eine US-Amerikanisierung der (sozial)politischen Kultur einher. Über die ganze Gesellschaft mit Ausnahme ihres eigentlichen Schlüsselbereichs, der Wirtschaftssphäre, erstreckt sich demnächst womöglich eine „Kultur der Kontrolle“, wie der US-amerikanische Kriminologe und Soziologe David Garland den allmächtigen Drang nach Disziplinierung fast aller sozialen Sphären nennt. Gesellschaftspolitisch bedeutet die Schwerpunktverlagerung von der Wohlfahrtsproduktion zur Regulation einer „Risikopopulation“ per Überwachung und Bestrafung, dass sich ein rigides Armutsregime etabliert. Falls es zu größeren ökonomischen Verwerfungen, etwa platzenden Spekulationsblasen oder einem Kollaps auf den internationalen Finanzmärkten kommt, ist sowohl eine grundlegende Veränderung des sozialstaatlichen Institutionengefüges wie auch ein Bruch mit der (sozial)politischen Kultur wahrscheinlich.
Armut in reichen Ländern
Armut ist ein mehrdimensionales Problem, das ökonomische (monetäre), soziale und kulturelle Aspekte umfasst. In einem reichen Land arm zu sein bedeutet mehr, als wenig Geld zu haben, und zwar vor allem:
* einen dauerhaften Mangel an unentbehrlichen und allgemein für notwendig erachteten Gütern, die es Menschen ermöglichen, ein halbwegs „normales“ Leben zu führen;
* Benachteiligungen in unterschiedlichen Lebensbereichen wie Arbeit, Wohnen, Freizeit und Sport;
* den Ausschluss von (guter) Bildung, (Hoch-)Kultur und sozialen Netzwerken, welche für die gesellschaftliche Inklusion nötig sind;
* eine Vermehrung der Existenzrisiken, Beeinträchtigungen der Gesundheit und eine Verkürzung der Lebenserwartung („Arme müssen früher sterben“);
* einen Verlust an gesellschaftlicher Wertschätzung, öffentlichem Ansehen und damit meistens auch individuellem Selbstbewusstsein.
In der öffentlichen Diskussion werden die Auslöser von Armut häufig mit deren Ursachen verwechselt. Während strukturelle Zusammenhänge und gesellschaftliche Verhältnisse, unter denen Menschen leben bzw. aufwachsen, die Voraussetzungen für Pauperisierungs- bzw. Prekarisierungsprozesse bilden, lösen bestimmte Ereignisse im Lebensverlauf solche Entwicklungen aus oder lassen sie voll zur Wirkung gelangen. Dadurch scheint es so, als sei der Tod des (Familien-)Ernährers, die Scheidung bzw. Trennung vom (Ehe-)Partner, Arbeitslosigkeit oder eine Mehrlingsgeburt am sozialen Abstieg schuld, den zumeist Frauen, Mütter und/oder deren Kinder anschließend erleiden. Tatsächlich waren sie allerdings schon lange vor dem betreffenden Schicksalsschlag unzureichend gesichert und liefen deshalb Gefahr, arm zu werden.
Ursachen der Spaltung in Arm und Reich
In letzter Konsequenz ist die wachsende Dramatik der Armut auf die Weltmarktdynamik und die verschärfte „Standortkonkurrenz“ zurückzuführen. Hinter dem wohlklingenden Etikett „Globalisierung“ verbirgt sich ein gesellschaftspolitisches Großprojekt des Neoliberalismus, das überall auf der Welt mehr soziale Ungleichheit bezweckt. Aus einer Wirtschaftstheorie, die durch Verbesserung der Angebotsbedingungen (z.B. Steuererleichterungen für Unternehmen) optimale Verwertungsmöglichkeiten für das Kapital zu garantieren empfahl, hat sich der Neoliberalismus zu einer Sozialphilosophie entwickelt, welche die ganze Gesellschaft nach dem Modell der Leistungskonkurrenz (um)gestalten will, wobei ihr der Wettbewerb zwischen (arbeitenden) Menschen, Unternehmen, Regionen und Nationen – kurz: „Wirtschaftsstandorten“ unterschiedlicher Art – als Wundermittel zur Lösung aller sozialen Probleme gilt.
Wenn man den als „Globalisierung“ bezeichneten Prozess einer neoliberalen Modernisierung für die kaum mehr zu übersehenden Tendenzen einer Pauperisierung, sozialen Polarisierung und Entsolidarisierung verantwortlich macht, liegen die gesellschaftlichen Ursachen des vermehrten Auftretens von Armut auf drei Ebenen:
Erstens: Im Produktionsprozess löst sich das Normalarbeitsverhältnis, von der Kapitalseite unter den Stichworten „Deregulierung“ und „Flexibilisierung“ vorangetrieben, tendenziell auf. Es wird zwar keineswegs ersetzt, aber in seiner Bedeutung stark relativiert durch eine ständig steigende Zahl atypischer, prekärer, befristeter, Leih- und (Zwangs-)Teilzeitarbeitsverhältnisse, die den so oder gar nicht (mehr) Beschäftigten wie ihren Familienangehörigen weder ein ausreichendes Einkommen noch den erforderlichen arbeits- und sozialrechtlichen Schutz bieten.
Zweitens: Im Reproduktionsbereich büßt die Normalfamilie, d.h. die vom Staat subventionierte traditionelle Hausfrauenehe mit ein, zwei oder drei Kindern in vergleichbarer Weise an gesellschaftlicher Relevanz ein. Neben sie treten andere Lebens- und Liebesformen, die zumindest tendenziell weniger materielle Sicherheit gewährleisten (sog. Ein-Elternteil-Familie, „Patchwork-Familie“, gleichgeschlechtliche Partnerschaft usw.).
Drittens: Hinsichtlich der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates bedingt der Wettbewerb zwischen den „Wirtschaftsstandorten“ einen Abbau von Sicherungselementen für „weniger Leistungsfähige“, zu denen allemal Erwachsene gehören, die (mehrere) Kinder haben. Kinder und Jugendliche sind heute deshalb so stark von Armut betroffen, weil der „Umbau“ des Sozialstaates auf Kosten vieler Eltern geht. Besonders nachteilig wirkt sich die schrittweise Abkehr von der Sicherung des normalen Lebensstandards durch Lohnersatzleistungen des Wohlfahrtsstaates aus.
Perspektivisch droht das Gemeinwesen in einen Wohlfahrtsmarkt sowie einen Wohltätigkeitsstaat gespalten zu werden: Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich finanziell besser gestellte BürgerInnen, soziale Sicherheit (z.B. private Altersvorsorge durch Versicherungspolicen der Assekuranz). Dagegen stellt der „postmoderne“ Sozialstaat nur noch euphemistisch „Grundsicherung“ genannte Minimalleistungen bereit, die Menschen vor dem Verhungern und Erfrieren bewahren, gibt sie ansonsten jedoch in Obhut karitativer Organisationen und privater WohltäterInnen.
Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik können zwar die Not der Betroffenen lindern, aber kaum verhindern, dass die Kluft zwischen Arm und Reich fortbesteht und den inneren Frieden gefährdet. Armut wirksam zu bekämpfen heißt nicht zuletzt, mit dafür zu sorgen, dass Strukturen sozialer Ungleichheit für immer beseitigt werden. Es bedarf einschneidender Reformen und entschlossener Umverteilungsmaßnahmen, um das Problem zu lösen. Dafür unbedingt erforderlich wäre ein Paradigmenwechsel vom „schlanken“ zum interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat.
Christoph Butterwegge ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Köln. Zuletzt sind seine Bücher „Armut in einem reichen Land“, „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ sowie „Armut im Alter“ erschienen.
Cover: http://www.amazon.de/Armut-einem-reichen-Land-verharmlost/dp/3593388677