Wirtschaftswachstum: Brauchen wir das?
Wenn die europäische Wirtschaft nicht mehr wächst, muss stärker um die Verteilung des Kuchens gestritten werden. Wachstums- und Wohlstandsfragen müssen dafür entkoppelt werden. Kommentar: Markus Marterbauer
In der EU und ganz besonders in den Krisenländern, von Spanien bis Zypern, liegt das Bruttoinlandsprodukt, also die Summe der erzeugten Güter und Dienstleistungen, sechs Jahre nach Beginn der von Banken und Finanzmärkten ausgelösten Krise noch immer unter dem Niveau von 2007. Die Wirtschaft schrumpft anstatt wie in der Vergangenheit zu wachsen. Die Folgen sind offensichtlich: Die Zahl der Arbeitslosen hat sich seit Beginn der Krise um mehr als 10 Millionen erhöht, die Staatsschulden sind um 3.700 Milliarden Euro gestiegen, gleichzeitig ist jedoch auch der Energieverbrauch zurückgegangen. Wer Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung wieder verringern will, muss zunächst bei einer Stabilisierung der Wirtschaft ansetzen und einen Kurswechsel in der europäischen Politik erreichen: aktive Verteilungs- und Beschäftigungspolitik statt Kürzung von Sozialleistungen und Lohnsenkungen.
Doch dabei kann nicht nur auf das alte Rezept des Wirtschaftswachstums gesetzt werden. Zum Ersten, weil die Finanzkrise noch länger anhalten, und damit auch das Wachstum schwach bleiben wird. Zum Zweiten, weil das Bruttoinlandsprodukt und sein Wachstum nur wenig geeignete Maße darstellen, um das übergeordnete Ziel des Wirtschaftens zu erreichen: eine Erhöhung des Wohlstandes für alle. Hier spielen Fragen der Verteilung von Einkommen und Vermögen, des Zugangs zu qualitätsvollen sozialen Dienstleistungen und der Verfügbarkeit nichtmaterieller Wohlstandselemente eine viel wichtigere Rolle. Zum Dritten, weil heute klar ist, dass hohes Wirtschaftswachstum mit einer starken Zunahme des Material- und Ressourcenverbrauchs verbunden ist und damit an seine natürlichen Grenzen stößt.
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat ein rasches Wachstum des wirtschaftlichen Kuchens gereicht, um eine Verbesserung von Realeinkommen und Lebensbedingungen für viele Menschen zu erreichen. Das war in der Finanzblase der 1990er und 2000er Jahre schon nur mehr sehr eingeschränkt der Fall, das Wachstum kam einseitig dem Finanzsektor, den VermögensbesitzerInnen und SpitzenverdienerInnen zugute. Wenn in Zukunft die Wirtschaft nicht mehr oder nicht mehr so stark wächst, dann müssen wir nach anderen Wegen suchen, sozial- und beschäftigungspolitische Ziele zu erreichen.
Es wird mehr um die Verteilung des Kuchens gestritten werden müssen. Die emanzipatorischen Ansatzpunkte für eine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Wohlstandsverbesserung sind vielfältig:
• Die Verkürzung der durchschnittlich geleisteten Arbeitszeit muss einen hohen Stellenwert haben, zunächst etwa in Form einer sechsten Urlaubswoche für alle.
• Der Sozialstaat muss die Menschen in jenen Lebensphasen besonders unterstützen, in denen sie sehr schutzbedürftig sind. Das bedeutet den Ausbau von Kindergärten und Krippen, Bildung und Sozialarbeit, Gesundheit und Pflege sowie die Verbesserungen von Arbeitsbedingungen und Einkommen für jene Menschen, die diese Leistungen erbringen.
• Soziale Dienstleistungen und Sozialtransfers müssen teils durch die Besteuerung von Vermögen, Erbschaften und Ressourcenverbrauch finanziert werden.
• Der Finanz- und Bankensektor muss – geleitet durch staatliche Regulierungen, höhere Finanztransaktionssteuer und Bankenabgabe – verkleinert werden.
• Technologische und soziale Innovationen müssen verstärkt, Energieverbrauch und Schadstoffausstoß verringert, der Konsumstil verändert, die Mobilität neu organsiert werden.
Mit einer aktiven Politik zur Neuverteilung des wirtschaftlichen Kuchens würde sich auch der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, ändern.
Markus Marterbauer leitet die Wirtschaftswissenschaft und Statistik in der Arbeiterkammer Wien. 2011 erschein sein Buch „Zahlen bitte! Die Kosten der Krise tragen wir alle“ im Deuticke Verlag. Blog: http://blog.arbeit-wirtschaft.at