Martin Schenk Occupy Oberlippenbart
Glatt rasierte Körper und glatte Menschen in einer glatten Welt nähren die Illusion, alles im Griff zu haben.
Es ist eine kleine Verletzung, die sich besonders hartnäckig zwischen Nase und Lippe breit macht. Genau dort, wo dem Schnurrbartträger normalerweise der Bart wächst. Und das ist schon das Stichwort. Denn rasieren ist nicht drin – außer um den Preis, die langsam verheilende Wunde wieder aufzureißen. So wächst der Bart, ziemlich ungelenk macht er sich breit, unterhalb der Nase. Der Blick in den Spiegel ist unsicher, die lieben KollegInnen im Büro sagen nichts, die Lebensgefährtin schon: „Bleibt das jetzt?“. Auch die Journalistin vom Fernsehen mit einer Interviewanfrage. Das muss auch gerade dann sein, wenn es nicht so passt (soll ich sagen, ich bin grad unpässlich mit Bart?), sie sagt, fällt schon nicht so auf.
Ohne Bart zu sein ist jedenfalls Mainstream. 95 Prozent der Männer hierzulande machen in der Früh Glattrasur im Gesicht. Ich war Mainstream. Jetzt bin ich die fünf Prozent. Occupy Oberlippenbart. Und der wächst.
Längst vergangen sind die Zeiten, da sich konservative Kreise empörten, weil die männliche Jugend den »deutschen« Vollbart nicht mehr tragen wollte, sondern die modischeren Schnauz-, Schnurr- und Kinnbärte der Italiener und Franzosen imitierte. Das waren noch Zeiten, als mein neuer Schnurrer den coolen Fortschritt bedeutet hätte. Längst vergangen auch die Zeiten, da man an der Barttracht die Rebellen, Künstler und Widerständigen erkannte. So klar ist da nichts mehr. Ich kenne eindeutig mehr Rebellen, Künstler und Widerständige, die in der Früh den Rasierer zur Hand nehmen.
Ich bin also ganz allein mit meinem Bartwuchs oberhalb der Lippe. Soll mich nicht so kränken. Die glatten Körper kommen nämlich vom Militär, sagt mir ein Freund. Die US-Soldaten sind im Ersten Weltkrieg bereits bartlos gestorben. Gilette hatte immerhin einen Exklusivvertrag mit der Army. Glatt rasierte Körper und glatte Menschen in einer glatten Welt nähren die Illusion, alles im Griff zu haben. Körpernormen formen Warenkörper. Das hat was. Als die Verletzung zwischen Nase und Lippe im Abheilen ist und sich jetzt anböte, wieder zum Rasiermesser zu greifen, weiß ich gar nicht mehr, ob ich zurück soll. Doch ich muss gestehen: ich entschied mich für das Risiko der glatten Oberlippennorm. Jetzt bin ich wieder 95 Prozent – aber auf ewig solidarisch mit den fünf.