Brüssel hat aus den Krisen gelernt
Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch („Postdemokratie“) beschreibt in seiner jüngsten Publikation „Jenseits des Neoliberalismus“, wie Konzerne die Demokratie und die Gesellschaft beschädigen. Die schwächelnde Sozialdemokratie sieht er als einzige Kraft, die diese Entwicklung verändern könnte.
Interview: Gunnar Landsgesell
In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie Konzerne als eine Kraft, die nicht allein über den Markt, sondern über den direkten Draht zur Politik den unternehmerischen Erfolg sucht. Sehen Sie die Demokratie durch den Neoliberalismus grundsätzlich in Gefahr?
Der Neoliberalismus ist problematisch, aber tatsächlich besorgniserregend ist seine pervertierte Form: die Macht der Großkonzerne (Corporate Power, Anm.). Sie tendieren dazu, demokratische Regeln zu unterlaufen, indem sie auf Regierungsebene lobbyieren und die Regeln des Marktes und auch der Demokratie zu unterlaufen versuchen. Es werden gute Beziehungen zu Beamten und Politikern hergestellt, um den Gesetzgebungsprozess zu beeinflussen. Egal ob bei Auslagerungen im Sozial- oder Gesundheitsbereich, bei der Wasserversorgung oder Infrastruktur konkurriert eine relativ kleine Anzahl von Unternehmen um die Aufträge. Gute Beziehungen machen sich da bezahlt. Das sind Vorgänge, die relativ schwer zu kontrollieren sind. Sie können nicht nur Monopolstellungen zur Folge haben, sondern wirken sich negativ auf Bürger und Konsumenten aus. Während man also mit Anhängern des Neoliberalismus über Fragen des Marktes diskutieren kann, ist das mit den Konzernen nicht möglich. Durch sie ist die Demokratie tatsächlich in Gefahr.
Glauben Sie, dass die Vorstandsetagen der Konzerne antidemokratisch eingestellt sind?
Nein, das nicht. Wie in „Postdemokratie“ beschrieben, verfügen wir über alle Instrumente der Demokratie – von freier Meinungsäußerung bis zu Wahlen. Aber: Entschieden wird nicht auf dieser Ebene, sondern hinter den Kulissen, durch die Eliten aus Wirtschaft und Politik. Der Umgang mit der Schuldenkrise in Südeuropa war ein perfektes Beispiel dafür. Beschlüsse wurden geradezu im Geheimen zwischen Banken und Regierungen gefällt und erst nachträglich demokratisch legitimiert. Wirtschaftsinteressen werden aber nicht durch politische Strategien angeleitet, sondern durch Unternehmensstrategien. Wie können wir leichter Arbeitskräfte entlassen, wie können wir unsere Bilanzen verbessern? Da geht es schlicht um eigene Ziele – wie können Steuern herabgesetzt werden, um eigene Waren billiger anbieten zu können? Dass diese Unternehmensziele aber letztlich zu schlechteren Sozialstandards führen, ist den Chefs nicht unbedingt bewusst. Wirtschaftseliten verstehen die gesellschaftlichen Konsequenzen ihrer strategischen Forderungen oft gar nicht.
Sie beschreiben die Sozialdemokratie als einzige Kraft, die in der Lage wäre, die pervertierte Form des Neoliberalismus zu stoppen. In den vergangenen Jahren hatten diese Parteien in Europa vielfach Gelegenheit dazu. Warum tun sie es nicht?
Die Sozialdemokraten müssen aus ihrer defensiven Haltung erst wieder herausfinden. Ihre Stammwählerschaft ist kleiner geworden, die Industrien sind geschrumpft. Aber so erging es schon zuvor den Konservativen, denen ein Teil der Landbevölkerung und einer christlich orientierten Schicht weggebrochen ist. Beide Großparteien versuchen also, neue Wähler zu finden. Nur haben diese keine sehr klare, stabile politische Identität mehr wie noch in den Gesellschaften des 20. Jahrhunderts. Man ging also dazu über, sich über Themen statt über gesellschaftliche Schichten zu definieren, womit die Parteiidentitäten ebenfalls fragiler und flexibler gerieten. Nun geht es darum, sich wieder als innovative Kraft zu verstehen: indem man innerhalb der Marktwirtschaft Regulierungen wie Steuergesetze, starke Arbeitnehmervertretungen und soziale Dienstleistungen einsetzt, die auf eine gerechte Gesellschaft abstellen. Sehr interessant ist, dass in vielen europäischen Gesellschaften Frauen sich stärker Richtung der linken politischen Sphäre orientiert haben. Auch das ist aber wieder ein Feld, auf dem Neoliberale und Sozialdemokraten ihre jeweiligen Vertretungsansprüche erheben. Hier erleben wir eine heftige Auseinandersetzung darüber, wer die Definitionsmacht über die Rechte von Frauen hat. Es geht einerseits darum, gleiche Chancen im Beruf zu ermöglichen, und andererseits darum, dabei soziale Standards zu sichern. Das gleicht einem Kampf um die Stimmen der Frauen.
Kann es sein, dass diese Auseinandersetzung die Sozialdemokraten überall in Europa schwächt, während die Konservativen in diesem Klima Aufwind verspüren?
Tatsächlich greifen die Konservativen nicht nur in England auf die Reste ihrer ländlichen und christlichen Stammwählerschaft zurück, während die Sozialdemokraten ihre Vergangenheit und damit ihre Kernwähler regelrecht zurückweisen – vielleicht in England stärker als in Österreich. Es sind aber alle großen Parteien aus dem 20. Jahrhundert im Niedergang begriffen. Sie treten gegen neue Gruppierungen an wie die Grünen, europafeindliche oder rassistische Parteien. Eine monopolisierte Parteienlandschaft wird es in Europa nicht mehr geben.
Deutschland erhielt unter der rotgrünen Regierung Schröders wesentlich schärfere Regelungen im sozialen Bereich als Österreich, man denke an Hartz IV. Um das Arbeitslosengeld nicht zu verlieren ist man in Deutschland z. B. auch gezwungen, in eine andere Stadt zu ziehen. Peter Hartz zeigt sich heute wenig überzeugt von den Folgen seines Programms. Sieht so die Zukunft der Sozialdemokratien aus?
Diese Maßnahmen glichen einer Bestrafung der Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Diese Reform ging klar zu weit. Österreich war gut beraten, das nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon funktioniert der österreichische Arbeitsmarkt besser als der deutsche. Für eine rot-grüne Regierung sehe ich in Deutschland aber gute Chancen. Die IG Metall und auch die IG Chemie waren deutlich Anti-Grün eingestellt. Das hat sich geändert, teils auch deshalb, weil sich ihre Industrien geändert haben. Grüne Technologien spielen in Zukunft eine große Rolle, die Gewerkschaften haben das akzeptiert.
Wo werden Mitte-Links-Regierungen sich zukünftig mit der neoliberalen Wirtschaft treffen?
Es gibt einige Bereiche, die sich Neoliberalismus und Sozialdemokratie teilen, durchaus gegen konservative Kräfte. Neoliberale setzen sich als Teil der liberalen Familie für mehr individuelle Rechte, die Frauen, gegen die Diskriminierung von Minderheiten ein. Auch freie Märkte brauchen eine gewisse Offenheit und Transparenz, um zu funktionieren. Der Crash findet dort statt, wo soziale Standards betroffen sind: beim Zugang zum Gesundheitssystem, der Absicherung von Arbeitskräften und Arbeitslosen, im Pflegebereich. Das sind Kostenfaktoren, die der Neoliberalismus zugunsten unternehmerischer Gewinne minimieren möchte. Ich sehe in Europa aber ein neues Modell des Wohlfahrtsstaates, der durch Services privater Unternehmen geleistet wird. Man kann das als einen Wohlfahrtsstaat der sozialen Investitionen bezeichnen. Präsident Obama gelang es etwa, seine Gesundheitsreformen durchzubringen, nachdem man sich darauf geeinigt hatte, dass Privatunternehmen die Krankenversicherung leisten und nicht der Staat. Sie wird zwar finanziert durch die öffentliche Hand, aber von privater Seite ausgeführt. Die Gefahr dieses Deals sehe ich darin, dass ein paar wenige Firmen viel Macht bündeln und monopolisieren, zugleich aber wenig Expertise einbringen, weil sie Services wiederum selbst auslagern.
Arbeitslosigkeit ist eines der Kernthemen der Politik. Das größte Problem ist, alle Bürger am Arbeitsmarkt zu beschäftigen. Sehen Sie hier neue Ansätze?
Ich sehe vor allem, dass man in den 90er Jahren einen falschen Weg gegangen ist, Leute durch Frühpensionen oder auch Frauen vom Arbeitsmarkt zu bringen, weil man glaubte, es gäbe zu wenig Arbeit. Anders in Skandinavien, wo man feststellte, dass mehr Arbeitskräfte auf dem Markt auch zu mehr Arbeit führen. Jede Form von ökonomischer Aktivität generiert zusätzliches Einkommen, wodurch wiederum der Markt angekurbelt wird und damit neue Arbeitsplätze entstehen. Dieses Modell hat sich als richtig erwiesen: Mehr Frauen am Arbeitsmarkt, mehr Migranten, weniger Frühpensionen bedeutet mehr Menschen mit Einkommen, mehr Steuereinnahmen und damit Konjunktur. Die Politik, den Arbeitsmarkt schrumpfen zu lassen, war ein Desaster. Ich glaube, aus diesem Geist ist auch Hartz IV entstanden. Soziale Standards abzubauen ist aber keineswegs nötig. Zudem würde das unseren Gesellschaftsvertrag gefährden: Bürger zu sein heißt, zu arbeiten und im Ausgleich für diese Arbeit erhält man soziale Rechte.
Sie glauben also nicht, dass unseren Gesellschaften die Arbeit ausgeht? Und dass der Zuzug von Migranten den Arbeitsmarkt belastet?
Migration ist ein schwieriges Thema. Sobald Zuwanderung sehr restriktiv geregelt wird, wächst unweigerlich der illegale Zuzug. Menschenfeinden dafür immer Wege. Illegale Migranten arbeiten aber unter den schlechtesten Bedingungen, was sich auf die sozialen Standards insgesamt auswirkt. Staaten, die die Migration einschränken, regeln das über die legale Zuwanderung, während die illegale Zuwanderung aber wächst. So entsteht ein Arbeitsmarkt, den ganz sicher niemand will. Wichtig wäre es aber, Migranten so einzusetzen, dass es ihren Qualifikationen entspricht. Sie arbeiten oft unter ihrem Ausbildungsniveau, weil sie über keine sozialen Netzwerke verfügen, ihre Fähigkeiten nicht verstanden oder anerkannt werden usw. Damit werden sie aber zu überqualifizierten Arbeitskräften, während Menschen mit geringerer Ausbildung diese Jobs nicht mehr bekommen. Zudem erweisen sich Migranten oft als die aktiveren, geschäftstüchtigeren Leute, die ja zur Arbeitssuche ihr Land verlassen haben. Das sorgt für soziale Spannungen. In England ist der Unmut groß, es heißt: Unsere Leute finden keine Arbeit, warum engagieren Firmen Migranten, wenn wir doch selbst so viele Arbeitslose haben. Die Antwort der Neoliberalen ist, dass der Markt das selbst regelt. Aber so lange können wir nicht warten. Wie soll es mit den Nationalstaaten weitergehen, sehen Sie eine Grenze, ab der die einzelnen Regierungen keine Souveränität mehr abgeben wollen? In der globalen Wirtschaft ist es unmöglich, sich auf nationaler Ebene einzubunkern. Die Aufgabe wird sein, wieder ein soziales Europa zu etablieren. Was wir dringend brauchen, ist eine gemeinsame Sozialpolitik, so wie sie etwa unter Jacques Delors auf der Agenda stand. Zweitens gibt es in Europa eine Vielfalt politischer Strategien, die man nicht „harmonisieren“ sollte, solange die Lösungsansätze der einzelnen Staaten einem gemeinsamen Ziel dienen. Selbstdisziplin in der Währungspolitik ist für die Mitgliedsstaaten der Eurozone ganz offensichtlich notwendig. Das ist aber kein Widerspruch zu einem starken Wohlfahrtsstaat und entsprechenden Steuereinnahmen, wie etwa Österreich zeigt. In England machen vor allem die rechten Kräfte Druck, die EU zu verlassen. Sie erhoffen sich davon, Brüssel loszuwerden, auch sozialstaatliche Verpflichtungen zu verlieren. Vom Austritt aus der EU erwarten sie, noch stärker mit deregulierten Märkten konkurrieren zu können – und das nationale sozialstaatliche Modell dem Wettbewerb mit China und der globalen Wirtschaft unterzuordnen.
Über diese Tendenzen weiß man in der EU natürlich Bescheid – wie reagiert man darauf?
Man hat in Brüssel aus den Krisen in Griechenland, Spanien und Portugal gelernt. Natürlich registriert man die Wut und die Opposition, die sich breit macht, und man versucht, die soziale Agenda wieder stärker auszubauen. Ich bin deshalb optimistisch, was das europäische Projekt betrifft. Auch, um zum Beginn unseres Gespräches zurückzukommen, wenn es stimmt, dass die Wirtschaftslobbys in der EU wesentlich einflussreicher sind als die der Arbeitnehmer Brüssel wird sich anstrengen müssen, seine Legitimität bei den Bevölkerungen zurückzugewinnen.
Colin Crouch, geboren 1944, ist ein britischer Soziologe und Politikwissenschaftler an der University of Warwick in Großbritannien. 2004 erregte er Aufsehen mit seinem Buch „Postdemokratie“, in dem er beschreibt, wie die Demokratie durch informelle Entscheidungen wirtschat licher und politischer Eliten ausgehöhlt wird, während die Ohnmacht der BürgerInnen trotz eines formal gut ausgebauten demokratischen Apparats wächst. Nach „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ (2011) erschien aktuell „Jenseits des Neoliberalismus – Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit“ („Making Capitalism Fit for Society“) beim Passagen Verlag.