Lampedusa – nichts gelernt?
FESTUNG EUROPA. Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass Europa die Menschenopfer in Kauf nimmt, um die Migration einzudämmen. Das schrieb Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin von Lampedusa, schon 2012 an Brüssel. Ein Kurswechsel bleibt weiter aus.
Text: Elias Bierdel
Als am frühen Morgen des 3. Oktober vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa ein Flüchtlingsboot mit rund 550 Menschen an Bord zunächst in Brand geriet und anschließend kenterte, da sanken mit ihm auch die Ideale des „Kontinents der Menschenrechte“ in ihr nasses Grab. Europa, das sich – nach dem Schrecken zweier Weltkriege – einst auch darauf gründete, jedem Individuum unveräußerliche Rechte zu gewähren, den Anspruch auf Schutz und Würde weltweit anzuerkennen, hat dieses Versprechen an seinen Außengrenzen längst verraten.
Es geht nicht „nur“ um den tragischen Tod von Flüchtlingen und MigrantInnen vor den Mauern der Festung Europa, sondern auch um die Resultate einer Politik, die systematisch auf Abschottung und Abschreckung setzt. Tausende Opfer werden in Kauf genommen, um über die Toten und Verschwundenen ein Signal an jene auszusenden, die da noch kommen könnten: „Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass die europäische Einwanderungspolitik diese Menschenopfer in Kauf nimmt, um die Migrationsflüsse einzudämmen“, schrieb Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin von Lampedusa, im vergangenen Jahr in einem offenen Brief an die Europäische Union. Schon damals gab es nicht mehr genug Platz auf ihrer Insel, um die vielen Ertrunkenen zu bestatten.
Im Oktober 2013 wurde die Welt dann Zeuge, wie die italienische Marine hunderte Särge mit Kriegsschiffen aufs Festland transportierte. Vor internationalen Kameras und in Begleitung hoher EU-Funktionäre hatte Premier Enrico Letta bei seinem Besuch auf der süditalienischen Insel ein Staatsbegräbnis für die 387 Opfer angekündigt, die vorwiegend aus Eritrea und Syrien stammten. Die Realität sah dann anders aus: In aller Eile, ohne jede Zeremonie, wurden die namenlosen Särge am Rande der südsizilianischen Stadt Agrigento bestattet. Kinder, Ehepaare, schwangere Frauen, junge Männer, die auf eine bessere Zukunft in Europa gehofft hatten, sie liegen nun alle auf dem Friedhof der Namenlosen in Piano Gatta.
Rom delegiert an Tripolis
Weit mehr als der Umgang mit den Toten sorgte das Verhalten der Behörden am Tag des Unglücks selbst für Empörung, als die Details durch italienische Presseberichte bekannt wurden. Fischer, die als Erste an dem sinkenden Schiff waren, hatten den Reportern unter Tränen geschildert, wie sie vergeblich über Funk nach der Küstenwache gerufen hatten, während vor ihren Augen hunderte Menschen um ihr Leben kämpften. Als dann ein Fischerboot mit 47 Geretteten an Bord in den Hafen einlief, wurde der Kutter von der Hafenmeisterei davon abgehalten, zur Unglücksstelle zurückzukehren. „Wir koordinieren ab jetzt die Rettungsmaßnahmen“, hieß es lapidar.
Für Fachleute in Sachen EU-Grenzregime stellen solche Umstände aber schon lange keine Überraschung mehr dar. Seit Jahren dokumentieren NGOs, wie Hilfe verweigert wird – und potenzielle Helfer davon abgehalten werden, Menschenleben zu retten. Bei Zuwiderhandlung drohen Anklagen nach dem gefürchteten Bossi-Fini-Gesetz, das irreguläre Einwanderung unter Strafe stellt – und damit auch die Rettung Schiffbrüchiger als „Beihilfe zur illegalen Einreise“ kriminalisiert.
Unter dem Eindruck immer neuer Flüchtlingstragödien vor Lampedusa wächst in Italien immerhin der öffentliche Druck für eine Entschärfung des strengen Einwanderungsgesetzes. Die römische Tageszeitung „La Repubblica“ startete eine Unterschriftensammlung, um das Einwanderungsgesetz so zu ändern, dass illegale Einreise nach Italien künftig nicht mehr als Straftat geahndet wird. Über 100.000 Unterschriften wurden binnen weniger Tage gesammelt, darunter jene von prominenten PolitikerInnen, Intellektuellen und KünstlerInnen. Unterstützung kam auch von der aus dem Kongo stammenden italienischen Integrationsministerin Cecile Kyenge.
Allerdings verfolgt die italienische Regierung wohl eine ganz andere Strategie, um mit den Phänomenen von Migration im Mittelmeer umzugehen. Rom setzt – wie seinerzeit schon Berlusconi und Muammar Gaddhafi – darauf, die Abwehr unerwünschter Zuwanderung an Libyen zu delegieren: Am 7. Oktober, nur vier Tage nach dem Horror von Lampedusa, schlossen die italienische und die libysche Grenzpolizei ein geheimes Abkommen, in dem beide Seiten „ab sofort“ gemeinsame Patrouillen der libyschen Grenztruppen unter Aufsicht italienischer Beamte vereinbarten. Bereits am 11. Oktober wurde nach Angaben von Überlebenden ein Flüchtlingsboot auf dem Weg nach Malta von einem Patrouillenschiff der libyschen Grenztruppen beschossen. Zwei Menschen waren sofort tot, weitere 200 ertranken, als das Boot durch den Beschuss sank.
Auch an Land tut Libyen wunschgemäß bereits wieder alles, um Flüchtlinge und MigrantInnen von Europa fernzuhalten. Tausende AfrikanerInnen werden in überfüllten Lagern unter unwürdigen Bedingungen festgehalten. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) berichtete am 12. November von „unhaltbaren Zuständen“ für Menschen aus Mali, Niger, Eritrea und Somalia, die im berüchtigten Wüstenlager von Al-Hamra im Westen des Landes festsitzen. Die hygienischen Bedingungen hätten bereits zum Ausbruch von Krätze und anderen Infektionskrankheiten geführt. Was die dort Festgehaltenen sonst noch zu erdulden haben, dazu enthält der IKRK-Report keine Informationen. Kein Wort von Folter, Vergewaltigungen, willkürlicher Gewalt, wie sie regelmäßig von aus dem Lager Entkommenen berichtet werden. Europa weiß ja längst, welche humanitären Folgen diese Art der Vorfeldverteidigung gegen den vermeintlichen „Flüchtlingsansturm“ im Süden hat. Erst im September hatten Vertreter des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) den Höllenort Al-Hamra besucht und sich „äußerst besorgt“ über die Lage von rund 1.000 Internierten – darunter viele Minderjährige – gezeigt.
Eurosur und Frontex
UN-Flüchtlingshochkommissar Antonio Guterres bemüht sich seit Jahren, der Propaganda von den „Flüchtlingsmassen, die nach Europa strömen“ entgegenzutreten: „Diese Wahrnehmung trügt“, sagte Guterres Anfang November in einem Interview der deutschen Tageszeitung „Die Welt“. „In diesem Jahr suchen weniger Menschen Asyl in ganz Europa als zu Beginn der 90er Jahre allein in Deutschland. Man muss auch beachten, dass von den schätzungsweise 15 Millionen Flüchtlingen weltweit 80 Prozent in Entwicklungsländern Schutz suchen. Europa hat die Kapazität, mehr zu tun.“
Die Kapazität hätte der Kontinent durchaus, aber den politischen Willen hat die Mehrzahl der 28 Regierungen in den EU-Mitgliedsländern ganz eindeutig nicht. Deshalb blieb es am jüngsten EU-Gipfel auch bei der schlichten Feststellung, dass „der Grenzschutz verbessert“ werden solle. Keine Rede davon, etwa die Flüchtlinge, die an den gemeinsamen Außengrenzen ankommen, nach Quoten auf die EU-Staaten zu verteilen, wie das vor allem Malta und Griechenland, aber auch Italien und Spanien vehement fordern. Dazu aber müssten die Drittstaatenregelung und der Dublin-Mechanismus außer Kraft gesetzt werden, der vorschreibt, dass Flüchtlinge nur in dem Land Asyl beantragen dürfen, in dem sie zuerst den Boden der Europäischen Union betreten haben. „Dublin II bleibt unverändert, selbstverständlich“, ließ der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich seine Kollegen wissen – und damit war das Thema vom Tisch.
Statt der dringend gebotenen innereuropäischen Solidarität setzen die Regierungschefs vielmehr weiter auf die technisch-militärische Aufrüstung der Grenzen. Das System Eurosur zielt auf einen verbesserten Datenaustausch zwischen den Grenzbehörden der Mitgliedsstaaten und Frontex ab und soll ein elektronisches Überwachungsnetz zunächst für das Mittelmeer schaffen. Dazu werden Drohnen, Satelliten und Radargeräte eingesetzt. Bei der Abstimmung im EU-Parlament versuchten die Grünen, wenigstens einen Passus einzufügen, der das 244 Millionen Euro teure Programm ausdrücklich dazu verpflichten sollte, „das Leben von Migranten und Flüchtlingen zu schützen (...) und gleichzeitig wirksamen Zugang zu internationalem Schutz zu gewährleisten.“ Doch so weit wollten auch die EU-ParlamentarierInnen nicht gehen: Die Mehrheit von Konservativen und Sozialdemokraten verabschiedete die Verordnung ohne grüne Rettungsklausel.
Flüchtlingsschutz in Gefahr
Es bleibt bei der repressiven Logik einer EU-Flüchtlingspolitik, die MigrantInnen in die Arme der Schlepper treibt und zwingt, bei der illegalen Einreise immer höhere Risiken einzugehen. „Wir haben zwar durchgesetzt, dass die Mitgliedsstaaten die EU-Grenzschutzagentur Frontex künftig darüber informieren müssen, wenn Flüchtlinge in Seenot geraten. Aber unsere Forderung, dass sie auch mehr zur Lebensrettung von Bootsflüchtlingen unternehmen, wurde abgeschmettert“, kommentiert Ulrike Lunacek, Vizepräsidentin und außenpolitische Sprecherin der Grünen im Europaparlament, die Abstimmungsniederlage. Anstelle der in die Kritik geratenen Pushbacks setze die EU jetzt zunehmend auf sogenannte Pullbacks. Das heißt, Drittstaaten übernehmen anstelle von Frontex das Abfangen von Flüchtlingsbooten. Damit wird de facto die Kontrolle der EUAußengrenzen an Drittstaaten ausgelagert, deren Menschenrechtsstandards – vorsichtig formuliert – zu wünschen übrig lassen: Im Falle des langjährigen und nun erneuten „Verbündeten“ Libyen handelt es sich um eines jener Länder, die nicht einmal der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten sind, in der 1951 Minimalanforderungen für den Umgang mit Flüchtlingen formuliert wurden. Die Genfer Flüchtlingskonvention war zunächst darauf beschränkt, hauptsächlich europäische Flüchtlinge direkt nach dem Zweiten Weltkrieg zu schützen. Um den geänderten Bedingungen für Flüchtlinge weltweit gerecht zu werden, wurde der Wirkungsbereich der Konvention mit dem Protokoll von 1967 sowohl zeitlich als auch geografisch erweitert. Eine Anpassung an aktuelle Gegebenheiten – etwa durch die überfällige Aufnahme von Folgen des Klimawandels als international anerkannten Fluchtgrund – ist jedoch nicht in Sicht. „Wenn wir dieses Paket jetzt aufschnüren würden, bekommen wir es nie wieder zu“, heißt es dazu in Diplomatenkreisen. „Dann droht der internationale Flüchtlingsschutz insgesamt zusammenzubrechen.“
So ruht die einzige realistische Hoffnung darauf, dass sich am Elend rings um die Festung Europa kurzfristig etwas zum Besseren wenden könnte, wohl wieder einmal auf der vielbeschworenen Zivilgesellschaft. Nur wenn sich massenhaft die Stimmen engagierter EuropäerInnen erheben, die legale Zugangswege für Schutzsuchende und MigrantInnen fordern, kann das Sterben an unseren Grenzen zumindest eingedämmt werden. Dazu bräuchten wir aber auch eine ehrliche Debatte darüber, inwieweit aufgrund unseres fragwürdigen westlichen Lebensstils andernorts Menschen die Lebensgrundlagen geraubt werden, sei es durch unfaire Handelsverträge, Überfischung, Umweltschäden oder die berühmten EU-Agrarsubventionen, die in Afrika Märkte zerstören.
Langfristig geht es dabei freilich auch um unser eigenes Überleben. Doch wer Tausende ertrinken lässt, ohne von ihnen auch nur Notiz zu nehmen, hat das ganz offensichtlich noch nicht begriffen.
Zur Person: Elias Bierdel ist deutscher Journalist und Mitarbeiter des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung an der Burg Schlaining. 2007 gründete er die NGO Borderline-Europe – Menschenrechte ohne Grenzen (www.borderline-europe.de). Im Jahr 2004 hatte er als Leiter der Hilfsorganisation Cap Anamur / Deutsche Not-Ärzte 37 afrikanische Flüchtlinge vor der Küste Siziliens vor dem Ertrinken gerettet, was ihm eine Anklage wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“ einbrachte. 2009 wurde er mit der Begründung freigesprochen, Hilfe sei nicht strafbar. Im gleichen Jahr erhielt Bierdel von SOS Mitmensch den Ute-Bock-Preis für Zivilcourage.
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