Getrennte Brüder
FAMILIENNACHZUG. Der mittlerweile 21-jährige Ali B. hat legalen Aufenthalt in Österreich. Obwohl Waise, kann er seinen zwölfjährigen Bruder nicht zu sich holen. Was bedeutet Kernfamilie im Asylrecht?
Text: Eva Bachinger
Eine Fluchtgeschichte von Tausenden: Ali B. hat als Kind seine Heimat verlassen. Seine Mutter, eine Witwe, flüchtete 2004 mit dem zwölfjährigen Buben und den jüngeren Brüdern Niamat und Jazdan aus Ghazni in Afghanistan nach Pakistan. In der Grenzregion, wo sich heute etwa eineinhalb Millionen Flüchtlinge sammeln, hielt es Ali nicht lange. Als Teenager zog er weiter in den Iran, wo er auf Baustellen arbeitete. Mit 16 flüchtete er, zumeist versteckt in Lkws, nach Österreich, 2008 erhielt er hier subsidiären Schutz. Das heißt, es werden zwar keine Fluchtgründe nach der Genfer Konvention zugesprochen, so lange die Lage im Herkunftsland zu unsicher ist, wird er aber auch nicht abgeschoben. Ali B. absolvierte die Hauptschule, lernt unermüdlich Deutsch und macht nun eine Installateurlehre. Die Wiener Hauptbibliothek gefällt ihm, hier tut sich eine neue Welt der Bücher für ihn auf. Ali spricht Farsi, lesen und schreiben hat er aber nie gelernt, weil ein Schulbesuch „zu viel Geld kostete“.
In den vergangenen Jahren hielt er telefonischen Kontakt zu Mutter und Brüdern. Gesehen hat er sie seit neun Jahren nicht mehr. Vor vier Monaten erfuhr Ali über Umwege, dass sein Bruder Niamat im Iran untergetaucht sei. Daraufhin ließ die Mutter ihren jüngsten Sohn Jazdan bei einer Familie in Pakistan und machte sich auf die Suche. Unter nicht geklärten Umständen starb sie im Iran. Wo sie begraben ist und wo Niamat verblieben ist, weiß Ali nicht. Diese Ungewissheit quält ihn. „Flüchtlinge leben in großer Sorge um das Leben ihrer Angehörigen, da sie sich meist in Krisengebieten aufhalten. Oft fokussieren sie ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Sorge um ihre Familie und die Frage, wie sie dieser helfen können“, so Claire Schocher-Döring, Leiterin des Suchdienstes beim Roten Kreuz.
Ali, mittlerweile 21, würde gern seinen kleinen Bruder Jazdan zu sich holen. Als Lehrling verdient er monatlich 720 Euro, davon zahlt er 350 Euro Miete. Nun schickt er jedes Monat 150 Euro den Unterkunftgebern, aber auch Jazdan sieht keine Schule von innen. Obwohl er erst zwölf und Vollwaise ist, gibt es für ihn keinen legalen Weg nach Österreich, außer selbst zu flüchten. Familiennachzug beschränkt sich auf Eltern, Ehegatten und Kinder. Auch wenn beide Eltern verstorben sind, schließt das Asylrecht eine Zusammenführung minderjähriger Geschwister aus. Die EU regelt den Nachzug in einer Richtlinie aus dem Jahr 2003. Wer zur Kernfamilie zählt, obliegt aber den Mitgliedsstaaten.
In der Diktion des Innenministeriums ist Ali B. ein „Ankerkind“. Zu Jahresbeginn 2012 geisterte dieser Begriff durch die Medien: Kinder würden vorausgeschickt, um Eltern nachzuholen, vermeldete die Innenministerin. Falls es sich so zuträgt, ist es nichts Neues: Auch im Nazi-Regime haben Eltern ihre Kinder allein in den Zug gesetzt –mit der Hoffnung nachzufolgen. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat sieht die Realität vielschichtiger: Familien werden auf der Flucht oft getrennt, ein Jugendlicher trifft Entscheidungen oft allein. Oft ist unklar, wo die Eltern sind, oder Kinder sind verwaist. In Afghanistan und Pakistan werden Söhne fortgeschickt, um eine Rekrutierung durch die Taliban zu vermeiden. Die Kosten für Schlepper sind hoch, sodass das Geld nur für einen reicht – meistens für den ältesten Sohn. Der Großteil der minderjährigen Flüchtlinge in Österreich stammt aus Afghanistan, Pakistan und Somalia. Die meisten von ihnen erhalten kein Asyl, sondern subsidiären Schutz. Mit diesem Status darf der Teenager nach einem Jahr Antrag auf Nachzug stellen. Durch die Wartezeit kann es passieren, dass er volljährig wird und die Zusammenführung nicht mehr möglich ist. Österreich sei aber im Vergleich zu Deutschland großzügiger bezüglich des Familiennachzugs von Kindern, betont Heinz Fassmann, Vorsitzender des Integrationsbeirats im Innenressort. Hierzulande gelten Flüchtlinge bis 18 als Kinder, in Deutschland bis 16 Jahre.
Selbst wenn Familien nachkommen, entspannt sich die Lage erst allmählich, geben ExpertInnen zu bedenken. Die Jugendlichen müssen sich plötzlich nicht mehr „nur“ um ihr eigenes Leben, sondern auch um das ihrer Angehörigen kümmern. „Sie haben nicht nur die Funktion eines Dolmetschers, sondern werden oft auch zu Entscheidungsträgern und Kulturvermittlern; es kommt zu einer Rollenumkehr, die für die meisten Jugendlichen außerordentlich belastend ist. Es ist öfter so, dass die Familie auch unausgesprochene Erwartungen hat, die der Jugendliche unmöglich erfüllen kann, zum Beispiel Familienerhalter zu sein“, schildern Daniela Albl und Veronika Krainz vom Verein „Lobby16“, der minderjährige Flüchtlinge unterstützt.
In der Zuwanderungsstatistik macht der Familiennachzug von AsylwerberInnen einen kleinen Teil aus. Im Vorjahr haben 966 Angehörige einen Antrag gestellt. Das Verfahren dauert etwa sechs Monate und verursacht Kosten für Dokumente, Reisen und DNA-Tests. Der Löwenanteil der Zuwanderung geht auf das Konto von Erwerbstätigen, Studenten aus dem EWR-Raum, vor allem aus Deutschland. Es gibt auch in geringerem Ausmaß qualifizierte Immigration über die Rot-Weiß-Rot-Karte. Für nicht qualifizierte Immigranten aus dem Nicht-EWR-Raum bleibt nur das Asylverfahren. „Lobby16“ fordert deshalb eine humanitäre Quote für Flüchtlinge. „Hier könnte Österreich mit gutem Beispiel vorangehen. Das würde jener Situation Rechnung tragen, dass Menschen etwa berechtigte wirtschaftliche Gründe haben, ihre Heimat zu verlassen“, so Albl. Die Quote würde den Asylbereich im gesamten EU-Raum entlasten. Auch Heinz Fassmann, Intergrationsexperte des BMI, sieht einen Mangel an legalen Möglichkeiten für Zuwanderung und für Kriegsflüchtlinge. Er spricht sich aber für den sogenannten „Status des vorläufigen Schutzes“ aus: „Das schützt Personen, deren Ursprungsland von Naturkatastrophen oder bewaffneten Konflikten heimgesucht wird, und schickt diese nicht in ein individualisiertes Asylverfahren, das einen hohen Aufwand und unsicheren Ausgang bringt.“ Wichtig sei jedenfalls, Asyl und Zuwanderung klar zu trennen.
Eine Verbesserung der Lage scheint dennoch in Sicht. Das EU-Recht könnte für Drittstaatenangehörige künftig einen erweiterten Familienbegriff definieren. Flüchtlinge wie Ali B. haben davon freilich nichts mehr. Das EU-Parlament appellierte aber im September an die Kommission und die Mitgliedsstaaten, NGOs stärker einzubinden und Jugendliche anders zu behandeln – „als Kinder und nicht wie Verbrecher, die Einwanderungsgesetze übertreten haben“. Die Mitgliedsstaaten werden aufgefordert, den sozialen und rechtlichen Schutz für Jugendliche zu verbessern – ungeachtet ihres legalen Status. Der Bericht erinnert explizit daran, dass „keinem Kind der Zutritt auf EU-Territorium verweigert und kein Minderjähriger interniert werden soll.“ Doch wie so oft ist der Ball nun bei den EU-Staaten. Bisher zeigt sich in der Asylpolitik aber wenig europäisches Denken, nationale Interessen haben die Oberhand.
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