Zwischen Tradition und Moderne
VIETNAM. Die 17-jährige Zu führt TouristInnen durch die traditionelle Welt der Hmong-Minderheit, um sich selbst einmal ein modernes Leben leisten zu können. Vietnams Minderheitenschutz gleicht allerdings einer Gratwanderung.
Text: Philipp Sonderegger
Wo die Ausfallstraße vom Marktplatz zu den Dörfern hinunter führt, steht ein gelbes Gebäude mit westlichen Geländewagen davor. Es ist ein Regierungsgebäude. „Da kann ich meinen Vater einmal die Woche besuchen“, grummelt Zu (Name von der Redaktion geändert). Er ist im Gefängnis, sagt sie und fügt knapp hinzu, „weil er unsere Traditionen nicht aufgeben will“. Mehr möchte die 17-Jährige dazu nicht sagen. Zu ist Angehörige der Hmong-Minderheit und arbeitet als Trekkingguide im armen Norden Vietnams. Dort führt sie WanderInnen ins Hinterland. Ganz traditionell: Zur kunstvoll bestickten blau-schwarzen Tracht trägt sie passende Gummistiefel mit Blumenmuster. Nach der Arbeit hält sie im Internetcafé über Facebook Kontakt zu ihren KundInnen aus Australien, den USA und Europa. Im Norden Vietnams, wo Minderheiten wie die der Hmong im Fokus der Regierung stehen, verbinden Teenager mühelos die Gegenwart und Lebensweisen des 18. Jahrhunderts. In gewisser Hinsicht unterscheidet sich das Leben dieser Heranwachsenden nicht von Alterskollegen in New York oder Berlin. Sie verlieben sich, wollen ausschlafen, und hin und wieder betrinken sie sich mit „Happy Water“, wie der Reisschnaps hier heißt. Zu zeigt, wie sie das bunte Kopftuch der unverheirateten Frauen zuerst mehrfach faltet und dann wie ein handbreites Stirnband bindet. „Eines Tages komme ich in Euer Land.“ Aufmerksam taxiert sie die Reaktion. Und lacht. Sie weiß, dass es nicht passieren wird. „Nicht einmal die Vietnamesen haben genug Geld, um nach Europa zu reisen.“
In den Bergen
Sapa liegt im bergigen Norden Vietnams, von dem kleinen Ort ist es nicht mehr weit zu den Grenzen von China und Laos. Die umliegenden Täler werden von ethnischen Minderheiten mit bunten Gewändern und klingenden Namen wie Flower Hmong oder Red Dzao bewohnt. Fotos dieser „exotischen“ Bergvölker und ihrer giftgrünen Reisterrassen sind um die Welt gegangen. Das unterscheidet Sapa von vielen anderen vietnamesischen Städten. Seit Mitte der 1990er boomt hier der Tourismus. 150.000 BesucherInnen nimmt der Ort jedes Jahr in sich auf. Vor 20 Jahren waren es gerade einmal 5.000. Dabei ist Sapa immer noch relativ schwer zu erreichen. Die meisten BesucherInnen nehmen den Nachtzug, der von Hanoi hinauf an die chinesische Grenze fährt. Von dort schraubt sich eine Straße ins Innere des nordwestlichen Bergmassivs. Die Hotels werden von Vietnamesen der Kinh-Mehrheit betrieben. Die Kinh dominieren das Land politisch und kulturell, sie machen 80 der insgesamt 90 Millionen Vietnamesen aus. Mit dem Tourismusboom sind viele hergezogen, um ihr Glück zu suchen. Jetzt bieten sie Tageswanderungen in die umliegenden Siedlungen der Montagnards an, wie die Minderheiten im ehemaligen französischen Kolonialgebiet auch heute noch genannt werden. Ein „Homestay“ über Nacht verspricht authentische Begegnung mit dem ursprünglichen Leben dieser Bergvölker – westliche Toiletten inklusive.
Zu gehört der ethnischen Untergruppe der Black Hmong an. Die Hmong sind eine der größten unter den 53 staatlich anerkannten Minderheiten in Vietnam. Mit anderen Frauen aus ihrem Dorf stiefelt Zu die Marktstraße von Sapa hinauf und wieder herunter. Sie warten darauf, dass die Minibusse der Reiseagenturen eintreffen. Die Hmong-Frauen verkaufen gestickte Armbänder und Geldbörsen. Wenn die Reisenden nach kurvenreicher Fahrt endlich aussteigen können und wieder festen Boden unter den Füßen spüren, werden sie von den Hmong-Frauen bestürmt: „Buy for me.“ Zu spricht besser Englisch als die älteren Frauen. Australien hat deutliche Spuren in ihrem Idiom hinterlassen. Seit dem neunten Lebensjahr führt sie TouristInnen in die Dörfer im Hinterland. Einen Dollar zahlt ihr der Hotelbetreiber pro Tag. Manchmal gelingt es Zu, mit den AusländerInnen auf der Markstraße direkt ins Geschäft zu kommen. Dann kann sie die üblichen 50 Dollar für einen Zweitagestrip zur Gänze selbst einstreifen. Fast zur Gänze. Am Markt kauft sie davon reichlich Fleisch und frisches Gemüse, bevor der Ausflug losgeht. Zwei Gehstunden von Sapa klebt die Holzhütte ihrer Eltern zwischen ein paar Maisstauden im Hang. Seit einem Jahr gibt es Strom, doch der ist so kostbar, dass damit nur der Fernseher betrieben wird. „Tantchen“ und Mutter bereiten ein Mittagsmahl am offenen Feuer zu. Der Rauch steigt die rußigen Holzwände hinauf durch die Decke und trocknet den Mais im Speicher über der Küche. Mit dem Korn werden die Lebensmittel vom Markt die achtköpfige Familie eine Woche ernähren. Zu bringt mit ihrer Arbeit praktisch die ganze Familie durch; ihre älteren Brüder, die kleinen Geschwister und die zwei Frauen. Zus Brüder haben kaum eine Chance auf einen Job. Der Maisanbau am steilen Hang wirft nicht genug ab, um etwas zu verkaufen. Mit ein paar hundert Dollar könnten sie ein Motorrad erstehen und TouristInnen chauffieren. Doch so viel Geld kann nicht einmal Zu erwirtschaften.
Zwischen Minderheitenschutz und Modernisierung
Die Hmong sind ursprünglich animistisch und bauen in großer Höhe Reis und Opiumpflanzen an. Das harte Leben und der Handel mit den Chinesen bescherte ihnen über Jahrhunderte Unabhängigkeit von der Staatsmacht. Im amerikanischen Krieg – wie er in Vietnam heißt – kämpften viele Hmong auf Seiten der USA gegen die kommunistisch dominierte Befreiungsbewegung Vietkong. Nach der Wiedervereinigung von Nord und Süd waren sie deshalb massiver Repression durch die Polizei ausgesetzt. Viele Hmong wandten sich dem Christentum zu. 1986 kam in der vietnamesischen Zentralregierung der rechte Flügel an die Macht und leitete wirtschaftliche Reformen ein. Vietnam wird heute am treffendsten als Markt-Leninismus beschrieben. Massive staatliche Investitionen brachten Wachstumsraten zwischen fünf und zwölf Prozent. Auch wenn die Schere weit aufgegangen ist und die nackte Armut vor allem unter den Minderheiten noch weit verbreitet ist – seit Anfang der 1990er Jahre fiel die Armutsrate von 60 auf zehn Prozent. Die Macht wollen die KommunistInnen freilich nicht teilen und ersticken jede Opposition im Keim. Laut Human Rights Watch wurden in den letzten zwei Jahren rund 20 Blogger zu langen Haftstrafen verurteilt, weil sie das Einparteiensystem in Frage stellten. Die traditionell renitenten Montagnards versucht Hanoi durch eine Doppelstrategie von polizeilicher Repression und wirtschaftlicher Entwicklung zu disziplinieren. Viele junge Männer wie Zus Vater kommen ins Gefängnis, weil sie den traditionellen Opiumanbau nicht aufgeben wollen. Alle paar Jahre kommt es zu regelrechten Aufständen.
Zugleich gibt die Regierung viel Geld aus, um die bäuerlichen Strukturen zu modernisieren. Ab dem Jahr 2000 wurden im Norden für 75.000 Haushalte Krankenstationen errichtet. Anerkannte Minderheiten erhalten kostenlose Gesundheitsversorgung und zahlen für den Schulbesuch keine Nebengebühren – ein Privileg, das anderen VietnamesInnen seit der Liberalisierung verwehrt bleibt. Die Hoffnung ist, dass die marktwirtschaftliche Entwicklung alternative Lebensentwürfe einebnet und zur politischen Integration beiträgt.
Dabei geht die Partei einen schmalen Grat zwischen Minderheitenschutz und Modernisierung. Das Land betreibt eine offensive Minderheitenförderung, die anerkannten Gruppen sind im offiziellen Vietnam gut repräsentiert, obwohl sie ein ähnliches Stigma tragen wie Roma und Sinti in Europa. Vermehrt werden auch in anderen Regionen „Homestay“-Projekte gefördert. Angehörige von Minderheiten erhalten Englischkurse und Kredite, um im Ort eine Unterkunft mit Dusche und WC zu bauen. Das soll den Tourismus ankurbeln. Tracht, Musik und Feste werden vom Regime gefördert, aber die damit verbundenen Bräuche und Lebensweisen als rückständig und abergläubisch unterbunden. Den Minderheiten droht auf diese Weise eine publikumstaugliche Folklorisierung.
Kultur als Ressource
Zu hat noch eine Überraschung auf Lager: Von ihrem Einkommen hat sie gemeinsam mit einer Freundin ein Zimmer in Sapa gemietet. Jetzt zieht sie abgegriffene Fotografien aus einer Lade: Zu beim Billlardspiel, Zu mit Tourengängern aus aller Welt, Zu vor dem Ho-Chi-Minh-Mausoleum in Hanoi. Auf einigen Fotos trägt sie Jeans und T-Shirt. Die verwegene Bergführerin ist plötzlich ein gewöhnlicher Teenager. Die bittere Armut ihrer Familie, die traditionelle Kleidung, ist das alles auch ein wenig Fassade für die TouristInnen?
Zu scheint die Irritation ihrer Gäste zu kennen. „Ich fühle mich wohl in der Hmong-Kleidung, im Winter warm und im Sommer kühl“, schmunzelt sie. Aber in Hanoi würde sie sich in der Kutte zur Zielscheibe von Feindseligkeiten machen.
In den 1990ern lud Vietnam den französischen Philosophen und Sinologen François Jullien ein, um sich in Fragen der Minderheitenpolitik beraten zu lassen. Das Ergebnis hat er in dem Bändchen „Die Affenbrücke“ festgehalten. Jullien kritisiert, dass manche Gegenden Vietnams zum touristischen Freiluftmuseum verkommen sind, in dem ethnische Minderheiten wie eine Ware aus dem Supermarkt konsumiert würden. Die Absicht, bedrohte Kulturen zu schützen, berge die Gefahr ihrer Erstarrung.
Eine Kultur, die nicht mehr im Austausch mit ihrer Umwelt steht, atme nicht mehr und könne nicht überleben. Jullien empfiehlt deshalb, Kultur nicht als Identität zu begreifen, sondern ihre Elemente als Ressource fürs Leben und Überleben nutzbar zu machen.
Das Mobiltelefon klingelt. Zu hebt ab, und während des Gesprächs verdunkelt sich ihre Miene. Eine Freundin hat gerade ihren Ehemann kennen gelernt, erzählt sie, nachdem sie das Telefon wieder neben sich gelegt hat. Einige Minderheiten in Vietnam sind matrilinear organisiert, und die Frauen sind den Männern in vielem gleichgestellt – die Hmong gehören nicht dazu.
Die Hmong-Frauen verrichten einen Großteil der Arbeit am Reisfeld, besorgen den Haushalt und verkaufen Stickereien. Die meisten Mädchen aus Zus Dorf wurden von ihren Eltern mit einem künftigen Ehemann verkuppelt. In Zus Familie hat dazu niemand die Macht.
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