Libertatia
RUBRIKEN. Die Utopie ist eine Zwickmühlengeschichte. Die Ansprüche müssen dennoch hoch bleiben.
POPULÄR GESEHEN: Eine Kolumne von Martin Schenk
An der nördlichen Spitze von Madagaskar errichteten Freibeuter eine Siedlung, in der sie ihre Schätze teilten und jenseits aller Geschlechter und Hautfarben gleichberechtigt lebten. Das alles ein Jahrhundert vor der Französischen Revolution. Die Siedlung nannte sich Libertatia. Nach 25 Jahren wurde das Experiment von einer Schiffsflotte aus Europa zerstört. So wird es berichtet. Ob es allerdings wirklich so war, weiß niemand. Ob es Libertatia wirklich gab, wer weiß?
Die Musiker von Ja, Panik haben Libertatia ein Album gewidmet. „Ich wünsch mich dahin zurück, wo’s nach vorne geht“, heißt es im Titelsong. Ein Ort, an dem es anders geht. Wobei der Fortschritt hier im Zurückschauen liegt. Darauf weist auch die Vorsilbe „Re“ bei Revolution, Reform, Reformation oder Renaissance hin. Der Nicht-Ort, die Utopie, kann überall sein und sagt: Anderes ist möglich. „Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann“, formuliert der Schriftsteller Robert Musil. „So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ Libertatia ist eine Zwickmühlengeschichte.
Es gibt Hinweise – aber niemand weiß, ob es diesen Ort wirklich gegeben hat. Utopische Gedanken leben ja alle bis zu einem gewissen Grad von ihrer Uneinlösbarkeit. Alltagsmäßig muss man sich trotzdem in einer Welt einrichten, die den Ansprüchen an ihren Idealzustand nie genügen wird. Zum Glück, könnte man auch sagen: Denn wer das vollständige Ganze der anderen Welt anvisiert, gerät leicht in das Totalitäre der Utopie, kippt ins Autoritäre. Wie viel Unrecht wurde im Namen des Guten verbrochen? Auch nicht wirklich hilfreich sind die Herolde der trügerischen Hoffnungen, die mit der besseren Welt Marketing machen. Getränke, T-Shirts, Handys und allerlei Produkte versprechen ein FeelGood in Revolutionspose. Wir kaufen die Weltveränderung ein. Der Radical Chic ist eine Business-Narkose für die Unruhe, die in der Utopie liegt.
Bei Libertatia geht es um „etwas Gemeinschaftsstiftendes, das in dunklen Momenten entsteht – ganz in der Gospel-Tradition“, sagt Andreas Spechtl von Ja, Panik. Den Entschluss, sich zu behaupten. Ein Statement sowohl gegen den Weltverbesserungskitsch als auch gegen das Aufgeben. Da ist was dran. Nicht zufällig waren Gospel, Blues und Soul kultureller Ausdruck der Bürgerrechtsbewegung. Das spricht etwas Dynamisches an, das nicht Trost spendet, sondern die Kraft, weiterzumachen. Das ist keine Vertröstung auf irgendwann. Das gelobte Land ist zwar fern, aber jetzt auch schon da. Da, wenn man kämpft. Und da, wenn man sich nicht gefallen lässt, dass das, was ist, schon alles ist.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.