Reise durchs System
DOSSIER. Fast zwei Jahre ist Momand in Österreich und hat das heimische Asylsystem erlebt. Stationen eines Asylsuchenden.
Text: Georg Eckelsberger, Florian Skrabal, Sahel Zarinfard für die Dossier-Redaktion
Es ist spät an diesem Tag im April. Momand ist müde, spürt die Strapazen seiner Reise. Die nächsten Stunden wird er dennoch nicht so schnell vergessen. Den Polizisten, den er anspricht, zu dem er „Asyl“ sagt – und offiziell im Burgenland ist. Momands Reise ist zu Ende, nicht seine Flucht. Sie hat den 30-Jährigen von Afghanistan bis nach Österreich geführt, sie geht auf einer Polizeistation weiter. Ein Übersetzer nimmt seinen Namen und Personalien auf, erzählt Momand heute. „Es sind schon zu viele aus Afghanistan da“, habe der Übersetzer gesagt. „Ihr flüchtet aus wirtschaftlichen Gründen, aber ihr könnt nicht bleiben.“ Momand ist schon mitten drin, in Österreichs Asylsystem.
„Heute sind Asylwerbende mit dem Verdacht konfrontiert, zum einen nicht rechtens Asyl zu beantragen und zum anderen nicht genügend zur österreichischen Gesellschaft beizutragen“, sagt Sieglinde Rosenberger, Politikwissenschaftlerin an der Universität Wien und Herausgeberin des Sammelbandes „Asylpolitik in Österreich“ (2010). Dabei ist Österreich völkerrechtlich verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen und sie menschenwürdig zu versorgen. So will es die Genfer Flüchtlingskonvention, die Vertreter der Republik im Jahr 1955 unterzeichneten. Hunderttausende Menschen flüchteten seither aus ihrer Heimat nach Österreich – etwa nach der Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstands 1956, im Prager Frühling 1968 oder während des Jugoslawienkriegs in den 1990er Jahren.
Mit Fragen, ob und wie viele Flüchtlinge Österreich aufnehmen soll, wird heute trotzdem Politik gemacht. Asyl ist ein Thema, das emotional diskutiert wird: Auf der einen Seite jene, die nicht dulden wollen, wie Asylsuchende hierzulande leben müssen, mit welchen Widerständen sie zu kämpfen haben. Und jene, die meinen, es ginge den Menschen jedenfalls besser als in deren Heimat; die meinen, Österreich nehme ohnehin zu viele Asylsuchende auf. „Über Jahre hinweg waren Flüchtlinge ein positiv besetztes Thema“, sagt Rosenberger. Was sich seitdem geändert habe, sei nicht das Gemüt der Österreicherinnen und Österreicher – sondern der Umgang der Politik mit dem Thema. „Die Vergangenheit zeigt, dass die Emotionalisierung stark davon abhängt, wie die politischen Parteien und die Regierung mit bestimmten Gruppen umgehen. Die Bevölkerung greift oft auf Argumente zurück, die sie von politischer Seite seit Jahrzehnten hört.“
Noch am selben Abend, an dem Momand das erste Mal „Asyl“ in Österreich sagt, überstellen ihn Polizisten nach Traiskirchen, rund eine halbe Autostunde südlich von Wien. Hier liegt das größte Flüchtlingslager des Landes, die Erstaufnahmestelle Traiskirchen. Die meisten der 17.412 Menschen, die wie Momand im Jahr 2012 um Asyl in Österreich ansuchen, lernen das Land hier kennen. Traiskirchen steht wie kein anderer Ort für Asyl. Am 5. November 1956 wird hier erstmals ein Flüchtlingslager eingerichtet, nachdem sowjetische Streitkräfte den ungarischen Volksaufstand brutal niedergeschlagen hatten. Damals kamen an nur einem Tag an die 6.000 Flüchtlinge in Traiskirchen an. Die Stadt zählte rund 6.300 EinwohnerInnen.
Heute leben rund 19.000 EinwohnerInnen in der Gemeinde, die Erstaufnahmestelle Traiskirchen zählt knapp 700 Menschen. Vor zwei Jahren, ungefähr zur Zeit, als Momand in Traiskirchen ist, sind es doppelt so viele Flüchtlinge. Die Erstaufnahmestelle ist auf Schwankungen ausgelegt, die Ausstattung auf das Notwendigste beschränkt. Alte Bundesheerbetten in Mehrbettzimmern, ein Beutel mit Hygieneartikeln, Verpflegung und Kleidung werden den Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. 23 Tage bleiben Asylsuchende im Schnitt in Traiskirchen. Hier warten sie auf die Antwort einer Frage: Wird das Asylverfahren in Österreich überhaupt eröffnet, also der Asylantrag zugelassen oder nicht? Momand bekommt seine Antwort am ersten Tag: Ja. Momand ist nun Asylwerber in Österreich. Kurz darauf wird er in eine private Flüchtlingspension nach Niederösterreich verlegt, wo er für die Dauer des Asylverfahrens untergebracht ist.
Mindeststandards gefordert
Seit 2004 ist die Verantwortung bei der Unterbringung von Flüchtlingen zwischen Bund und Ländern aufgeteilt: Der Bund übernimmt die Erstversorgung. Sobald das Asylverfahren beginnt, sind die Bundesländer bei der Verpflegung und Unterbringung in der Pflicht. Die Kosten werden im ersten Jahr im Verhältnis 60 zu 40 geteilt. Dauert ein Verfahren länger als zwölf Monate, trägt der Bund die gesamten Kosten. Mittlerweile würden 90 Prozent der Verfahren innerhalb der ersten acht Monate erstinstanzlich entschieden, heißt es aus dem Innenministerium. Zur durchschnittlichen Verfahrensdauer können keine Angaben gemacht werden – sie wird nicht berechnet. Bis eine Entscheidung fällt, vergehen in vielen Fällen aber Jahre. Es gibt Asylsuchende, die seit neun Jahren auf die Erledigung ihres Verfahrens warten.
Zweimal wird Momand noch nach Traiskirchen fahren, zu Interviews, in denen er die Gründe für seine Flucht offenzulegen hat. Seine Angaben werden überprüft, nachrecherchiert. Eine denkbar schwierige Aufgabe, wenn die Spur wie in seinem Fall in ein Kriegsgebiet führt. Momand erzählt, dass er als Sozialarbeiter für die afghanische Regierung gearbeitet, Bauprojekte wie Straßen oder Brücken bei der lokalen Bevölkerung präsentiert und damit den Unmut der Taliban auf sich gezogen habe. Er erzählt von Drohanrufen, die er bekommen hat, und von dem Abend, an dem Truppen der Taliban versucht hätten, in das Bürogebäude einzudringen, in dem er gearbeitet habe – und gescheitert wären. Davon, wie er seine Familie aus dem Land bringt, bevor er selbst flieht. Zwischen Momands Interviewterminen liegen mehr als sechs Monate. Davor, dazwischen, danach heißt es: warten.
In dieser Zeit spitzt sich die Lage der Flüchtlinge oft zu. Auch bei Momand, der sie in einer sogenannten organisierten Unterkunft, einer privaten Pension im niederösterreichischen Grimmenstein, absitzt. Momand erzählt von schlechtem Essen, von rassistischen Erfahrungen mit QuartiergeberInnen und NachbarInnen. Was er berichtet, bestätigen die Recherchen zu „Dossier: Asyl“, der ersten umfassenden journalistischen Untersuchung der Lebensbedingungen von Asylsuchenden in Österreich. Die Unterkunft in Grimmenstein zählt zu den schlimmsten in Niederösterreich: Schimmel, lose Leitungen, durchgelegene Matratzen. Diese oder andere Missstände finden sich in einem Drittel der von Dossier untersuchten Quartiere. Was ebenfalls auffällt: Der Umgang zwischen Betreibenden und Asylsuchenden funktioniert in wenigen Unterkünften. Spricht man Probleme an, wird es schnell hitzig, Menschen weinen, andere schreien. Oft fehlt Information – auf beiden Seiten. Seien es Asylsuchende, die QuartierbetreiberInnen wegen Auflagen kritisieren, auf die diejenigen gar keinen Einfluss haben – wie zum Beispiel wegen der geringen Höhe des Taschengelds, das im Gesetz mit 40 Euro monatlich festgeschrieben ist. Oder QuartiergeberInnen, die ihre Bewohnerinnen und Bewohner undankbar finden und auf Konfrontation gehen, weil ihnen der kulturelle Hintergrund der Menschen nicht einmal in Grundzügen bekannt ist. Dann reichen kleine Dinge für den großen Konflikt.
NGO-VertreterInnen fordern seit Jahren einheitliche Mindeststandards bei der Unterbringung, der UNHCR schnellere Asylverfahren, die Volksanwaltschaft menschenwürdigere Zustände in Asylheimen. Der einzige Bereich im Politikfeld Asyl, der tatsächlich rein nationalstaatlich bestimmt werde, sei die Unterbringung der Asylwerbenden, sagt Sieglinde Rosenberger: „Das ist ein Grund, warum sich das politische Interesse so stark darauf konzentriert.“ Dazu kommen die anderen Hürden, die auch Momand erlebt: Asylsuchende dürfen bis auf Hilfs- und Saisontätigkeiten in Österreich nicht arbeiten. Integration während des Asylverfahrens ist nicht vorgesehen. Deutschkurse werden selten in ausreichendem Maße angeboten, viele Asylsuchende versuchen, sich mit Büchern und Fernsehen eigenständig Deutsch beizubringen. Die oft kritisierte mangelnde Integration der Asylsuchenden ist politisch gewollt. „70 Prozent der Asylwerber erhalten erfahrungsgemäß keinen internationalen Schutzstatus“, sagt Peter Webinger, zuständiger Sektionschef im Innenministerium. „100 Prozent integrieren zu wollen, wäre nicht der richtige Weg.“
Nach 22 Monaten erhält Momand seinen Brief. Die Entscheidung des Bundesasylamts: negativ. „Ihre Angaben waren als widersprüchlich und nicht nachvollziehbar festzustellen gewesen.“ Dabei hat Momand alles erzählt: Von seiner Kindheit auf Kabuls Straßen, von seinem Vater, der ein wohlhabender Teehändler war, doch Haus und Grund aufgeben musste, als die Taliban die Überhand in Afghanistan gewannen. Momand kann Dokumente vorweisen, nennt die Namen seiner Kollegen und Vorgesetzten. Dass in dem Bericht des Asylamts steht, dass ihn keiner identifizieren konnte, war ein Schock für ihn.
Vorerst darf Momand bleiben: Er hat subsidiären Schutz erhalten. Dieser Status wird vergeben, wenn die Behörden zwar keinen Grund feststellen, nach Asylrecht positiv zu urteilen, ein Flüchtling aber aufgrund von schwerwiegenden Gefahren für Freiheit, Leib oder Leben nicht in seine Heimat abgeschoben werden kann. Heute lebt er in einer Wohnung im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Momand hat noch keine Möbel. Es sei nicht leicht gewesen, eine Wohnung zu finden, sagt er. Asylsuchender, kein Job, keine Verwandten – VermieterInnen reagieren da skeptisch. Am Ende klappt es doch. Momand schließt sich mit zwei Männern zusammen, die er in der Pension in Grimmenstein kennengelernt hatte. Sie sammeln Geld unter anderen Asylwerbern, um die Kaution und Provision bezahlen zu können. Seitdem er in Wien wohnt, geht er zweimal die Woche zum Deutschkurs und liest viel. Momand braucht noch einen Kasten, ein Bett, einen Stuhl. Er will Freunde finden, sagt er, und natürlich einen Job. Allzu langfristig kann er nicht planen. Seine Zeit in Österreich hat ein Ablaufdatum: Am 12. August 2014 endet sein subsidiärer Schutz.
Der Bund gibt rund 93 Millionen, die Bundesländer 41 Millionen Euro für die Grundversorgung von Flüchtlingen aus, macht insgesamt: 135 Millionen Euro oder rund 16 Euro je Österreicherin oder Österreicher im Jahr.
Die Ausgaben für die Grundversorgung von Asylwerbenden belaufen sich auf 0,09 Prozent der Staatsausgaben. Im Vergleich dazu gibt Österreich 1,89 Prozent für Freizeitgestaltung, Sport und Kultur und 12,96 Prozent für die öffentliche Verwaltung aus.