Im Nullzustand
DOSSIER. Mike ist schon lange in Österreich. Seine Aufenthaltsgenehmigung ist abgelaufen, doch die Behörden wissen nicht, wie sie ihn außer Landes bringen sollen. Mike steckt fest und das seit Jahren. Menschen wie er werden in Österreich im besten Fall geduldet.
Reportage: Hanna Silbermayr, Illustrationen: Eva Vasari
Eigentlich war er auf dem Weg zu seinem Anwalt. Mit ihm wollte er über den Brief sprechen, den er kurz vorher bei der Post abgeholt hatte. Doch auf dem Weg griff ihn die Polizei auf. Mikes Asylverfahren war in letzter Instanz negativ entschieden worden, seine Aufenthaltsberechtigung für Österreich war damit abgelaufen. Das war es auch, was in dem Brief geschrieben stand. Eine Beamtin auf der Polizeistation erklärte ihm, dass er mit dem Anwalt jetzt nicht mehr reden müsse. Er könne keine Beschwerde mehr gegen den Gerichtsentscheid einbringen. Man legte ihm einen Zettel vor, forderte ihn auf, zu unterschreiben, andernfalls drohe die Schubhaft. „Dann habe ich meine Ausweisung unterschrieben“, sagt Mike (Name von der Redaktion geändert). Mike wollte auf keinen Fall ins Gefängnis.
Status: nicht abschiebbar
Heute, vier Jahre später, sitzt er im Halbdunkel seiner spärlich eingerichteten Einzimmerwohnung auf dem Boden und erzählt, wie es dazu kam, dass er sein Heimatland in Afrika verlassen musste. Dass er in einem Boot nach Europa gekommen ist und ein Schlepper ihn schließlich in Wien bei der Landstraße aus dem Lastwagen steigen ließ. Das war im Jahr 2002. Mike stellte damals einen Antrag auf Asyl. Acht Jahre später hatte er die Gewissheit, dass man ihn in Österreich nicht will: Sein Antrag war abgelehnt worden.
Im Bescheid wird Mike aufgefordert, das Land innerhalb von zwei Wochen zu verlassen. Doch Mike bleibt. Er weiß nicht, wie er in sein Herkunftsland zurückkehren soll, dort, wo ihn nach zwölf Jahren Abwesenheit sowieso niemand mehr erwartet. Auch die österreichischen Behörden wissen nicht, wie sie Mike außer Landes bringen sollen, solange er von der Botschaft seines Heimatstaates keine Reisedokumente ausgestellt bekommt. Nun gibt es weder ein Vor noch ein Zurück. Mike besitzt keine Papiere mehr, die ihm einen legalen Aufenthalt in Österreich erlauben würden. Asyl hat er nicht erhalten, und subsidiärer Schutz wurde ihm auch nicht zugesprochen. Mit dem Schutzstatus hätte sein Aufenthalt zumindest einen rechtlichen Boden gehabt. Doch Mike hat gar nichts. Für die österreichische Fremdenpolizei gilt er als „nicht abschiebbar“. Er darf eigentlich nicht mehr im Land sein, ist es aber trotzdem. Und die Behörden können nichts dagegen machen. Ein Nullzustand.
Botschaften spielen nicht mit
Dem Chef der Fremdenpolizei, Gerhard Reischer, ist die Problematik bewusst. Lange, dunkle Gänge führen in sein Büro im Innenministerium. Sie wirken wie das Sinnbild der aufwendigen Bürokratie, die man hier voranzutreiben versucht. Warum jemand nicht abgeschoben werden kann? Das Problem liege hauptsächlich bei den abgewiesenen AsylwerberInnen selbst, glaubt Reischer, weil diese falsche Angaben zu ihrer Person machen würden. Manchmal liege das Problem aber auch bei den ausländischen Konsulaten. Die Botschaften, das merkt man schnell, spielen eine wichtige Rolle im Ausweisungsverfahren. Sie müssen die abzuschiebenden Personen als ihre StaatsbürgerInnen identifizieren und ihnen Reisedokumente ausstellen. Machen sie das nicht, ist eine Abschiebung faktisch unmöglich.
Die Ursachen sind vielfältig. Eine Ende 2012 erschienene Studie des Europäischen Migrationsnetzwerks besagt, dass die Gründe nicht unbedingt bei den abzuschiebenden Personen selbst liegen. Es gibt Staaten, die schlicht nicht über die notwendigen Strukturen wie etwa ein zentrales Melderegister verfügen und so gar nicht überprüfen können, ob jemand ihr Staatsbürger ist. Andere hingegen hätten solche Systeme, wollen aber im Fall einer Abschiebung einfach nicht mit dem österreichischen Staat kooperieren.
Leben in Ungewissheit
Was für die BeamtInnen bloß Papierarbeit bedeutet, ist für Mike ein Leben in ständiger Ungewissheit. Die Angst vor einer Abschiebung – sollte die Botschaft plötzlich doch Reisepapiere ausstellen – sitzt ihm stets im Nacken. Jeder Gang außer Haus wird zu einer Herausforderung. Zudem kann die Fremdenpolizei für einen „rechtswidrigen Aufenthalt“ eine Verwaltungsstrafe von bis zu 2.500 Euro ausstellen. Wird jemand ein zweites Mal erwischt, erhöht sich die Summe auf bis zu 7.500 Euro. Der einzige Grund dafür ist, dass man eigentlich nicht mehr im Land sein sollte.
Abgewiesene AsylwerberInnen ohne Papiere haben mit einem Widerspruch zu kämpfen, das weiß auch Brigitte Kukovetz, Soziologin an der Universität Graz. Es gibt nur wenige Möglichkeiten, der Illegalität zu entkommen. Diese sind in der Regel an das Schlagwort „Integration“ gebunden. „Einerseits versuchen die betroffenen Personen, nicht in die Hände der Fremdenpolizei zu geraten, und isolieren sich dadurch stark. Andererseits versuchen sie, ihren Aufenthalt zu legalisieren. Diese Menschen schwanken zwischen zwei Haltungen: Um nicht abgeschoben zu werden, dürfen sie nicht zu auffällig agieren, um aber einen legalen Aufenthaltstitel zu bekommen, müssen sie sich sozial integrieren und gewisse Kriterien erfüllen, wie etwa ausreichend Deutschkenntnisse vorweisen.“ Der Spagat zwischen verstecken und dazugehören ist schwer zu schaffen.
Heute repariert er Computer
Über die Höhe der Strafen für „Illegalität“ kann Mike nur lachen. „Wer soll das bezahlen, wenn man nicht arbeiten darf?“, fragt er. Wird ein Asylansuchen in letzter Instanz negativ entschieden, fällt oft jegliche Unterstützung von Seiten des österreichischen Staates weg. Einen legalen Arbeitsplatz bekommt man erst recht nicht. Die Folgen sind häufig schlechte Wohnunterkünfte, keine Gesundheitsversorgung und nur selten eine Krankenversicherung. Das kritisiert auch die Europäische Agentur für Grundrechte: Irregulären MigrantInnen würde der Zugang zu Grundrechten verwehrt, da sie gezwungen sind, sich in prekäre Sphären zurückzuziehen, wo der Staat keine Zugriffsmöglichkeit mehr hat. Damit werden sie leicht zu Opfern von Ausbeutung.
Die jeweilige Situation hängt in Österreich auch von den Bundesländern ab, sagt Brigitte Kukovetz. In Wien bleiben auch die nicht abschiebbaren Personen in der Grundversorgung. In anderen Bundesländern verlieren sie diese. Mike hat das Glück, weiterhin 190 Euro an staatlicher Unterstützung beziehen zu können. Zum Leben reicht das natürlich nicht. Früher hat er Drogen verkauft. Nachdem er deshalb aber fast zwei Jahre im Gefängnis gesessen ist, hat er beschlossen, es sein zu lassen. Heute schlägt er sich mit allen möglichen Arbeiten durch, repariert Computer, hilft bei Freunden aus, nimmt Malereiarbeiten an, tischlert. Manchmal kommt so genügend Geld zusammen, manchmal nicht. Um legal arbeiten zu können, hat er sich einmal einen gefälschten EU-Pass besorgt. Doch seinen Arbeitsplatz war er nach zwei Monaten wieder los, als ihn die Polizei kontrollierte.
Ein Zwischenleben
Eigentlich hätte die Fremdenpolizei seit dem Jahr 2009 ein Werkzeug in der Hand, mit dem sie Personen vor solch prekären Situationen, die Menschen unter Umständen in die Kriminalität treiben, schützen könnte: die Duldung. Laut Gesetz kann der Aufenthalt eines Fremden geduldet werden, falls eine Abschiebung nicht möglich ist. Doch die Duldung wird nur in den seltensten Fällen zuerkannt – es gibt keinen Rechtsanspruch darauf. Wer sie bekommt und wer nicht, entscheiden die Behörden nach eigenem Ermessen.
Nach welchen Kriterien man bei der Vergabe von Duldungskarten vorgeht, kann Fremdenpolizei-Chef Reischer schnell erklären: „Wenn eine Abschiebung nicht möglich ist, bekommt man nicht automatisch eine Duldung. Der Fremde muss seiner Mitwirkungspflicht nachkommen.“ In der Praxis bedeutet das, dass die betroffene Person zu den Vorladungen der Fremdenpolizei erscheinen muss, dort der Abnahme von Fingerabdrücken zustimmt, ein Antragsformular für die Botschaft unterschreibt und vor allem auch die Wahrheit über ihre Identität sagt, so Reischer. Kurz: Die abzuschiebende Person muss mit der Fremdenpolizei kooperieren.
Eigentlich hat Mike genau das gemacht. Nachdem er seine Ausweisung unterschrieben, also eigentlich seiner Abschiebung zugestimmt hatte, nahm man ihn ins „gelindere Mittel“. Das bedeutet, dass er sich jeden Tag bei der Polizei melden, sich dort einen Stempel und eine Unterschrift auf ein Blatt Papier geben lassen musste, um zu zeigen, dass er nicht untergetaucht und jederzeit für eine Abschiebung greifbar ist. Nach zwei Monaten erklärte man ihm, er müsse nicht mehr kommen. Warum, das weiß er bis heute nicht. Weder die Fremdenpolizei noch die Botschaft haben sich seitdem bei ihm gemeldet. Von einer Duldung hat er sowieso noch nie etwas gehört.
Die Duldungskarte: ein Paradoxon
In der Realität dient die Duldungskarte lediglich dem Identitätsnachweis. Wird man von der Fremdenpolizei kontrolliert, muss man keine Konsequenzen befürchten: Man kann nicht mehr in Schubhaft genommen werden und muss auch keine Geldstrafe mehr wegen illegalen Aufenthalts zahlen. Doch die Karte stiftet Verwirrung, wie Kukovetz weiß: „Die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind verunsichert und wissen nicht, was das jetzt wieder für eine neue Karte ist.“ Denn: Schutz vor einer Abschiebung bietet die Duldung nicht. „Man kann die Karte jederzeit verlieren und dann auch abgeschoben werden“, erklärt die Soziologin. Etwa dann, wenn von der Botschaft doch noch ein Heimreisezertifikat ausgestellt wird und dadurch eine Abschiebung wieder möglich ist. Dann wird die Duldung kurzerhand aberkannt. „Das ist ein ziemliches Paradoxon“, kritisiert Kukovetz diese Handhabe.
Darüber, warum Duldungskarten so selten vergeben werden, gibt es nur Vermutungen. Als das Fremdenrecht 2009 reformiert wurde, wurde von vielen Seiten Kritik am Gesetzesentwurf laut. Die Caritas meinte, dass der österreichische Staat mit der Duldungskarte eine Personengruppe ohne Rechte schafft. Und äußerte die Befürchtung, man würde die betroffenen Menschen damit in die Kriminalität drängen. „Die wünschenswerte Eingliederung in die Gesellschaft“, so hieß es in einer Stellungnahme, „wird ihnen bewusst verwehrt.“ Das UN-Flüchtlingskommissariat plädierte dafür, geduldeten Menschen nach einer bestimmten Zeit einen höheren Status mit mehr Rechten zu gewähren. Diese Kritik wurde vom Gesetzgeber aufgegriffen. Er fügte eine Klausel in den Gesetzestext ein, die besagt, dass geduldeten Personen nach einem Jahr der Status „Besonderer Schutz“ zuerkannt wird.
So haben nicht abschiebbare Personen theoretisch die Möglichkeit, über die Schiene der Duldung legal im Land zu bleiben. Denn der Status „Besonderer Schutz“ ist eine der Voraussetzungen für eine befristete Niederlassungsbewilligung mit freiem Arbeitsmarktzugang: die „Rot-Weiß-Rot– Karte plus“.
Auch Mike hat die „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“ beantragt, doch stehen die Chancen schlecht, sie ohne eine vorherige Duldung zu bekommen. Das Aufenthaltsverbot, das ihm aufgrund seiner Gefängnisaufenthalte ausgesprochen wurde, könnte der Hauptgrund für die Verweigerung dieser Niederlassungsbewilligung mit Arbeitsmarktzugang sein. Denn auch wenn er ausreichend Deutschkenntnisse vorweisen kann, den Hauptschulabschluss in Österreich absolviert hat, durch soziale Kontakte und Beziehungen zur österreichischen Gesellschaft seine Integrationsfähigkeit beweist, gilt das Aufenthaltsverbot – auch wenn es 2011 aufgehoben wurde – womöglich als Merkmal seiner Nichtintegrationsfähigkeit.
Innerlich hat er sich inzwischen darauf eingestellt, dass er Österreich wohl früher oder später verlassen wird müssen. „Jetzt kann ich nur noch warten. Ich kann nicht mehr für mich entscheiden, was ich machen will. Ich kann nicht einfach nach Salzburg fahren, wenn ich Lust darauf habe. Ich kann eigentlich nur schlafen und hoffen“, sagt er, während er einen Computer formatiert, den man ihm zur Reparatur vorbeigebracht hat.