Das Boot ist voll
DOSSIER. Bshar schlug sich aus Syrien durch, Stanley kam aus Nigeria. Beide wurden nach Überfahrt in überfüllten Kähnen in Lampedusa an Land gespült. Wer die harte Reise schafft, ist längst nicht am Ziel.
Reportage: Clara Akinyosoye
Stanley (Name von der Redaktion geändert) ist Flüchtling und hat doch nie um Asyl angesucht. Der Nigerianer hat kein Vertrauen in das europäische Asylsystem. „Sie werden mir sowieso nicht glauben.“ Sie, damit sind die österreichischen Behörden gemeint. Deshalb lebt Stanley seit bald drei Jahren in Wien, undokumentiert. Ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne Geld. Der 33-Jährige schläft, wo Menschen ihm Obdach geben, in Restaurants, Lokalen oder Geschäften. Wenn sie schließen, findet Stanley seine Ruhe auf einem Sofa oder am Boden. Um fünf Uhr früh macht er sich wieder auf den Weg, dann kommt Leben in die Geschäfte. Seine Bekannten muss Stanley um Geld bitten. Das macht er ungern, wie er sagt. Stanley hat noch seinen Stolz, aber davon wird man nicht satt. Neu in Wien, suchte er auf der Straße nach schwarzen Menschen und fragte sie, ob er bei ihnen duschen dürfe. Stanleys Leben gleicht einer Endlos-Warteschleife. Er kämpft sich von Tag zu Tag durch, lebt in Angst vor der Polizei. Er wartet auf bessere Tage. Sie kommen nicht.
„Sie haben auf uns geschossen“
Stanley stammt aus dem Nigerdelta, einer der gefährlichsten Gegenden in Nigeria, wo die Konflikte zwischen der nigerianischen Regierung, Rebellengruppen und den internationalen Ölkonzernen blutig ausgetragen werden. Stanley hatte sich gegen die missbräuchliche Verwendung staatlicher Gelder für Arbeitslose eingesetzt und handelte sich damit Probleme mit einem korrupten Politiker ein. Er wurde mit dem Tod bedroht. „Man hat mich und meine Familie aus dem Haus geschickt und es dann vor unseren Augen niedergebrannt.“ Im Jahr 2010 ist er geflohen. Seine Familie blieb zurück. Stanley blieb nur, was er am Körper trug. Er habe kaum Geld gehabt, trotzdem nahmen Fluchthelfer ihn auf ihren Wegen mit. Stanley reiste von Nigeria durch den Niger nach Libyen. Mit ihm zogen 700 Menschen durch die Wüste. Es fällt ihm schwer zu berichten, was er in Libyen durchgemacht und erlebt hat: Sterben, rohe Gewalt, Frauen, die aus Afrika fliehen wollten und in Libyen brutal vergewaltigt wurden. Die Flüchtenden gerieten im Frühjahr 2011 mitten in den libyschen Bürgerkrieg und den NATO-Einsatz. Der Bombenhagel kostete auch Flüchtlinge das Leben, sagt Stanley. Rebellengruppen hatten zu dieser Zeit vermehrt schwarze Menschen angegriffen, sie beschuldigt, Söldner des Diktators Muammar al-Gaddafi zu sein.
Auch Stanley wurde gejagt. Eines Nachts hatten Rebellen das Flüchtlingscamp unter Beschuss genommen, erzählt er. Dabei wurde sein Freund getötet. „Sie haben ihm den Kopf mit einer Machete abgeschlagen.“ Die Menschen flüchteten zur Küste. Stanley hatte Angst vor dem Meer, aber „ich wollte lieber auf dem Meer sterben, als zuzulassen, dass mir jemand meinen Kopf abschlägt. Wir konnten weder zurück noch dort bleiben.“ Stanley sagt immer wieder, dass er Gott für sein Leben dankt. Seinen Glauben hat er nicht verloren.
Auf dem Meer
Etwa eine Woche waren mehrere hundert Menschen auf einem alten, beschädigten Boot zusammengekauert unterwegs nach Lampedusa. Es gab nur wenig Brot und Wasser, und das ging schnell aus. „Wir waren ruhig und beteten zu Gott. Ich habe dort fast meinen Verstand verloren.“ Das Boot war überfüllt, und der Nigerianer kam mit anderen im Maschinenraum, nahe dem Motor, unter. Viele starben, wahrscheinlich erstickt an den Gasen. Auch Stanley konnte nur schwer atmen. „Über die Toten haben sie Decken geworfen.“ Die italienische Küstenwache kam dem Boot zur Hilfe und brachte die Flüchtlinge an Land, nach Lampedusa. Sie mussten sich einer Leibesvisitation unterziehen, man untersuchte sie und quartierte sie im Flüchtlingslager ein. Die Behörden nahmen Stanleys Fingerabdrücke. Eine Woche später kam er in eine andere Stadt. Er blieb einige Monate in Italien, bis man ihn unvermittelt aus dem Lager warf. Da war er plötzlich wieder sich selbst überlassen. Er nahm den erstbesten Zug, in dem er sich verstecken konnte, und landete eher zufällig in Österreich.
Und noch eine Flucht
Bshar ist seit Oktober 2013 in Österreich. In Syrien betrieb er mit seinem Bruder eine Autovermietungsfirma in Homs. Die drittgrößte Stadt Syriens erlangte durch die massiven Kämpfe zwischen syrischen Truppen und Rebellengruppen traurige Berühmtheit. Auch zwei JournalistInnen aus den USA und aus Frankreich wurden getötet. Der Bürgerkrieg trieb auch Bshar im Juni 2013 aus seiner Heimat. Er floh über Jordanien und Ägypten nach Libyen. Bei seinem ersten Versuch landete er für zehn Tage in einem libyschen Gefängnis. Er kam aber frei, weil „sie wissen, dass wir in Syrien Probleme haben“. Bshar musste zwar zurückkehren, startete aber gleich einen weiteren Versuch. Und der gelang. Mit Fluchthelfern schaffte er es, in einem Auto nach Jordanien zu fahren und von dort mit einem Touristenschiff nach Ägypten. Mit einem Bus ging es weiter nach Libyen, wo Bshar das Geld ausging. Er arbeitete einige Wochen als Elektriker in Tripolis, um Geld für die Überfahrt nach Italien zu sparen. Dort wurde er bedroht und ausgebeutet. „Seit Gaddafi weg ist, hat in Libyen jeder Waffen. Menschen werden schon wegen zehn Dollar erschossen“, sagt Bshar. Der Syrer zahlte rund 5.000 Euro für die Flucht von Syrien nach Italien. Einen Schlepper zu finden, sei keine schwierige Angelegenheit. „Sie finden dich“, sagt Bshar. Es gab nicht den einen, der die ganze Reise organisierte, sondern mehrere, die jeweils eine Reise von einer Region in die nächste ermöglichten.
Hölle auf dem Meer
Die Reise über das Mittelmeer war die „Hölle“, sagt Bshar. Er hatte Angst, dass das Boot sinken würde. Gesteuert wurde es von einem Flüchtling, der als Gegenleistung dafür gratis mitreisen durfte. „Es gab kein Essen, nur kleine Käsestücke, ganz wenig Wasser. Wir hatten keinen Platz. Es waren 250 Menschen auf dem Boot, auch Familien und Kinder“, erzählt Bshar. Das Boot war voll. Für einen Freund von Bshar war kein Platz mehr, er musste auf das nächste Boot warten. Es hat sich mit 450 Menschen einen Tag später auf den Weg nach Lampedusa gemacht. Nur 200 Menschen überlebten, Bshars Freund war nicht darunter. Noch von der italienischen Küste aus hatte man das Schiff kreisen und sinken sehen, sagt Bshar. „Wir haben der Polizei, als sie uns gerettet hat, gesagt, dass noch ein Boot kommt. Aber sie haben gesagt, dass Malta zuständig ist.“ Dort kommen ebenfalls regelmäßig Flüchtlingsboote an. Es sind Erlebnisse wie diese, die Bshar nicht vergessen, nicht überwinden kann. Nachdem die Flüchtlinge nachts vor der Küste eingetroffen waren, riefen sie die Polizei. Sie mussten eineinhalb Stunden im Wasser kreisen, bis man ihnen zu Hilfe kam. Aber alle überlebten.
Im Flüchtlingslager herrschten menschenunwürdige Zustände, die auch der Grund für die Räumung des Lagers im vergangenen Jahr waren. Das Lager war stets maßlos überbelegt. Obwohl nur Platz für rund 250 Menschen war, wurden oft mehr als 1.000 Flüchtlinge untergebracht. Menschen schliefen am Boden. Die ersten zwei Nächte habe es keine Decken gegeben. „Wir haben das Putzpersonal um Müllsäcke gebeten, damit wir sie über Matratzen ziehen und uns zudecken können.“ Bshar verbrachte 23 Tage dort, bis er schließlich nach Catania kam.
Verlogene Flüchtlingspolitik
Der Syrer berichtet von Menschenrechtsverletzungen und Gewaltakten von Seiten der Polizisten. Flüchtlinge wurden geschlagen, ihre Finger und Hände gebrochen, weil sie ihre Fingerabdrücke nicht abgeben wollten. Sie weigerten sich, sie wussten, dass eine Registrierung in Italien bedeutet, dass Italien für sie zuständig ist. Dort wollten sie nicht bleiben. Bshar blieb nicht. Er stieg in den Zug nach Bologna, von dort nach Wien und kam schließlich nach Traiskirchen. Die Behörden hatten ihm 48 Stunden Zeit gegeben, Italien zu verlassen. Zurück will er nie wieder. Doch in Österreich wird er wohl nicht bleiben dürfen. Er hat einen Bescheid von den Behörden bekommen: Nicht Österreich, sondern Italien ist für seinen Asylantrag zuständig. Bshar ist einer der sogenannten Dublin-Fälle. „Dublin“ ist unter AsylwerberInnen zu einem „geflügelten Wort“ geworden, das für Unsicherheit und Angst steht. Die „Dublin 2“-Verordnung besagt, dass der EU-Staat, der die „illegale Einreise“ von AsylwerberInnen nicht verhindert hat, für deren Asylanträge zuständig ist. Eine Regelung, die Mittelmeerländer wie Griechenland, Spanien und Italien in die Pflicht nimmt und Staaten im Herzen von Europa entlastet. Jährlich kommen rund 30.000 Menschen in Lampedusa an. Danach landen sie meist auf der Straße, mittellos und ohne die Möglichkeit, zu arbeiten. „In Italien funktioniert die Versorgung der Asylwerber nicht“, sagt Anny Knapp, Obfrau der „asylkoordination Österreich“. Es sei aber „mit einem Abschiebestopp“, wie man ihn gegenüber Griechenland aufgrund der verheerenden Zustände beschlossen hat, nicht getan. Denn die Dublin-Verordnung und das Asylsystem müssen grundlegend geändert werden, meint die Juristin. Die Asylpolitik nennt sie verlogen. Durch das Grenzregime bleibt den Menschen keine Möglichkeit mehr, legal in die EU zu kommen und um Asyl anzusuchen. Einen Asylantrag kann man nur in einem EU-Land stellen. Wer es betritt, macht sich bereits der illegalen Einreise schuldig. Zwar bekennt sich die EU offiziell zum Flüchtlingsschutz, so Knapp, „aber man öffnet keine Türen für Menschen, die schutzbedürftig sind.“ Menschen wie Bshar und Stanley werden weiterhin auf den gefährlichsten Wegen in die EU flüchten. Manche scheitern und sterben in der Wüste, andere ertrinken im Mittelmeer. Die EU hat noch keine adäquate Lösung dafür gefunden. Sie ist in den letzten Jahren den „Das Boot ist voll“-Zurufen aus den Nationalstaaten gefolgt und versucht die Grenzen so dicht wie möglich zu machen.