Kaffee trinken in schweren Zeiten
RUBRIKEN. Der Mann hinter der Bar wirft die Espressomaschine an, doch der Kaffee ist schon bezahlt. Über das Kaffeetrinken in schweren Zeiten.
POPULÄR GESEHEN: eine Kolumne von Martin Schenk
„C’è un caffè sospeso?“ – „Gibt es einen aufgehobenen Kaffee?“ Diese Frage hat eine über hundertjährige Tradition in Neapel. Ein Blick auf die Kreidetafel zeigt vier Striche hinter dem mit wackeliger Schrift gekritzelten Wort „Espresso“. Der Mann hinter der Bar wirft die Espressomaschine an, löscht mit dem Tuch einen Kreidestrich von der Tafel und reicht der jungen Frau auf der anderen Seite der Theke die Tasse mit dem frisch duftenden Kaffee. Aufgehoben heißt, ein anderer hat schon bezahlt. Wenn ein Neapolitaner glücklich ist und einen Kaffee an der Bar trinkt, bezahlt er zwei statt einen: einen für sich und einen für den Gast, der nach ihm kommt. Es ist, als ob er den Rest der Welt auf einen Kaffee einladen möchte. Entstanden ist diese Tradition als eine Regung der Freude und der Großzügigkeit.
Es ist ganz einfach. Ich zahle zwei Kaffee – einen für mich und einen für jemanden, der es sich nicht leisten kann. Personen zahlen im Voraus in einem Lokal für Essen oder Trinken, das für jemand bestimmt ist, der nicht das nötige Geld hat. Spender und Empfänger bleiben einander unbekannt, um Großzügigkeit, Ansehen und den Genuss von Kaffee auch in schweren Zeiten zu schützen. Die Sospeso-Sache hat durch die Wirtschaftskrise eine neue Dynamik bekommen. Auch in Neapel hat der geteilte Kaffee nun plötzlich existenzielle Bedeutung erlangt. Nicht nur Kaffee, sondern auch Brot, kleine Mahlzeiten oder Gemüse werden so zwischen Unbekannten geteilt. In der Voijvodina, in Griechenland oder Spanien machen über hundert Bäckereien, Gasthäuser und kleine Märkte mit. Auf einer Landkarte im Internet sind diese Orte verzeichnet, an denen es für Leute, die sich das Notwendigste nicht mehr leisten können, Kleinigkeiten zu essen und zu trinken gibt. Unbürokratisch, anonym, ohne Beschämung ist das Ziel. Der Kaffee ist frisch, das Kipferl nicht vom Vortag, das Brot nicht für die Letzten übrig geblieben, das Glück geteilt. Schon bezahlt, heißt es dann. Sospeso kann man auch mit „schwebend“ übersetzen. In Berlin ist daraus der „fliegende Kaffee“ geworden. „Für viele ist das Café mehr als nur eine bloße Auftankstation: Es ist Treffpunkt, Arbeitsplatz und Freizeitgestaltung zugleich.“ Das Café ist ein kommunikativer Raum, in dem jeder Mensch seinen Platz haben sollte. „Fehlt das Kaffeegeld, kann dem städtischen Treiben lediglich von außen zugeschaut werden“, erklärt die Berliner Initiative. „Wir wollen das Café wieder für alle öffnen.“ Der geteilte, der aufgehobene, der schwebende, der fliegende Kaffee wird die Welt nicht retten. Er ist aber eine starke Geste: unbürokratisch, anonym, ohne Beschämung. Der Kaffee frisch, das Kipferl nicht vom Vortag, das Brot nicht übrig geblieben – das Glück geteilt.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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