Neue Chancen
STRASSENKINDER. In Rumänien landen Hunderte Jugendliche aus Armut auf den Straßen. Sie leben auch in Kanälen, schnüffeln Lack. NGOs wie Concordia springen ein, wo Eltern oder der Staat fehlen.
Reportage und Fotos: Eva Bachinger
Es ist schwül in Bukarest, die Autos stauen sich durch die mehrspurigen Straßen. Auch viele, neu glänzende SUVs sind darunter. Eine Frau schiebt ihre Sonnenbrille ins Haar und zückt ihr Smartphone. Für die vollbesetzten öffentlichen Busse ist hier kein Durchkommen. Die Luft ist voller Abgase, es ist dröhnend laut. Doch es gibt einen Ort, wo es noch heißer ist: unter der Straße, im Kanalsystem. Obdachlose haben beim Bahnhof von Bukarest, dem Gara de Nord, den Kanaldeckel entfernt und das Loch im Boden vergrößert. Heiße Luft und üble Gerüche wehen einem entgegen, eine Mischung aus menschlichen Ausdünstungen, Fäkalien, Verwesung und Essen. Über eine wackelige Leiter klettern wir nach unten. Es ist besser, man drückt sich ein T-Shirt vor die Nase und atmet nur durch den Mund. Bevor man in einen engen, niedrigen Gang gelangt, wo an beiden Seiten brennheiße Heizungsrohre verlaufen, drücken wir uns durch eine enge Öffnung. „Was ist bei einem Rohrbruch, wenn Wasser die Gänge flutet? Dann ertrinken die Leute wie die ...“ Fabian Robu spricht den Satz nicht zu Ende. Der Mitarbeiter des Sozialprojekts von Pater Georg Sporschill, führt mich in die Katakomben von Bukarest. Die Reise in die Tiefe ist schwer zu ertragen.
Pure by magic
Was einem hier unter der Stadt begegnet, ist schockierend. Doch die Menschen, die hier leben, haben sich an all das gewöhnt, sagen sie. Sie merken nicht mehr, wie sehr ihnen dieses Leben alles raubt. Viele von ihnen betäuben sich, saugen Aurolac, einen Lackverdünner, aus einem Plastiksackerl. Ein Jugendlicher weist schwere Verbrennungsnarben am Hals auf, der Lack hatte sich einmal entzündet. Im Spital hat er um sein Leben gekämpft. Spritzen liegen herum, mehrfach gebraucht, untereinander ausgetauscht. Oft spritzen sich die Jugendlichen auch ein Pflanzenschutzmittel mit Namen Ethnobotanical. Zwölf Euro kostet ein Säckchen mit je 25 Gramm, „pure by magic“ steht auf der Verpackung. Die Mittel sind legal erhältlich, sie vergiften den Körper, schädigen die Organe und führen zu Halluzinationen. Manche bleiben zwei Tage und Nächte ständig in Bewegung, erst bei völliger Erschöpfung wenden sie sich an den Streetworker.
Costin Nedelcu arbeitet in Lazarus, ein Sozialzentrum für obdachlose Jugendliche, das Concordia in Bukarest betreibt. Dort werden sie vorerst aufgenommen um sich zu stabilisieren. Wenn sie sich eingelebt haben, werden sie an weiter vermittelt, an eine weitere Einrichtung von Concordia in Ploiesti beispielsweise, wo sie eine Ausbildung absolvieren können. Viele schaffen es nicht: In der Kapelle von Lazarus hängen viele Fotos. Porträts von Verstorbenen, deren Gesichter gezeichnet sind. Die meisten sind kaum 20 Jahre alt geworden. Costin fährt mehrmals in der Woche zum Gara de Nord nach Bukarest und bringt den Jugendlichen Tee und einen Imbiss. Er redet ihnen gut zu. „Ihr müsst nicht so leben, steigt aus dem Kanal, kommt zu uns.“ Dann steigen sie aus dem Kanal, meistens aber nur, um zu betteln oder Müll zu sammeln. Den zerlegen sie in Einzelteile und verkaufen ihn. Oder sie tänzeln durch die Straßen, in Trance, ohne das wütende Gehupe der AutofahrerInnen wahrzunehmen. Die Menschen, die an der nahen Bushaltestelle des Bahnhofs warten, wenden ihren Blick ab. Ein Kind steht am Kanalloch und schaut hin, sein Vater zieht es schnell weg.
Die erste Torte
Wie anders sind die Augen von Adriana. Sie leuchten blau, die Wimpern fein säuberlich getuscht. Sie bedient heute beim Mittagessen die Tischgruppe der Leiter des Concordia-Heims in Bukarest. Ihre Handgriffe wirken souverän. Die strahlend weiße Bluse, die zu einem Zopf geflochtenen Haare, die manikürten Fingernägel wirken nach dem Besuch im Untergrund wie aus einer anderen Welt. Adriana macht eine Lehre zur Kellnerin. Am Wochenende hat sie viel Trinkgeld bekommen, erzählt sie, und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Die Narbe, die durch das Make-up schimmert, sieht man erst bei genauerem Hinsehen. Adriana lebte zwar nicht auf der Straße, aber sie stammt aus einer sehr armen Familie. „Sie wäre wohl auf die Straße geraten“, vermutet Fabian Robu, der uns durch den Kanal geführt hat. Sobald sich die Jugendlichen im Sozialzentrum stabilisiert haben, werden sie auf weitere Einrichtungen der NGO verteilt: Hier in Bukarest, wo Adriana arbeitet und lebt, können die Kinder und Jugendlichen Lehrberufe absolvieren, Kellner oder Bäckerin werden. „Jedes Kind bekommt zum Geburtstag eine Torte. Es ist für viele die erste Torte ihres Lebens“, erzählt der Bäckermeister. Es gibt ein Orchester; Karate, Musik, Volleyball und Fußball werden auch angeboten.
Ceauşescus Erbe
1989, als die Ära Ceauşescu zu Ende ging, landeten viele Kinder und Jugendliche auf der Straße. Die Waisenhäuser wurden aufgelöst und die Kinder ihrem Schicksal überlassen. Die Bilder von verwahrlosten Kindern in Gitterbetten in völlig heruntergekommenen Heimen gingen um die Welt. Die Zustände waren unhaltbar, viele Kinder nahmen auch einfach Reißaus. Die protzigen Bauten wie der Arcul de Triumf – dem Triumphbogen in Paris nachempfunden – oder der gigantische Parlamentspalast mit mehr als 5.000 Räumen, früher das „Haus des Volkes“ genannt, zeugen heute noch vom Größenwahn des rumänischen Diktators.
Nur die wenigsten der früheren Heimkinder konnten ein Leben unter normalen Umständen weiterführen, erzählt eine andere Jugendarbeiterin, Ana Palcu, die in der Diakonie im malerischen Sibiu arbeitet – die Stadt war 2007 gemeinsam mit Luxemburg Kulturhauptstadt Europas. Ein Großteil der Heimkinder von damals ist heute von Sozialhilfe abhängig, meist fehlt ihnen eine Ausbildung, um Arbeit zu finden. Die meisten Organisationen, die die Lage der Kinder zu verbessern suchen, sind aus dem Ausland finanziert. Dem rumänischen Staat mangelt es an Geld für deren Unterstützung. In dieser Situation machen sich nicht wenige Kinder ins Ausland auf, beginnen dort erneut zu betteln oder zu stehlen. Dass sie dazu gezwungen werden, wie immer wieder kolportiert wird, kann Ana Palcu nicht bestätigen.
Tatsächlich sieht man in Bukarest selbst kaum noch Kinder auf den Straßen. Wenn, dann sind es Kinder von obdachlosen jungen Frauen. Schätzungen zufolge gibt es etwa 5.000 obdachlose Menschen in Bukarest, einige hundert davon sind Jugendliche. Die Stadt würde wohl wieder am liebsten den Deckel auf die offenen Kanäle legen. Einmal habe sie das schon versucht, erzählt Fabian Robu. Doch mit Deckel drauf löst sich das Problem nicht.
Auch die 19-jährige Atie hat die Kurve gekratzt. Sie lebt im Wohnheim Casa Iuda in Bukarest, dort besucht sie die erste Klasse der „Schule der zweiten Chance“. Besonders hilfreich sei der strukturierte Tag im Heim, der sich zwischen Andacht, Arbeit und Essen abspielt. Atie fällt der Heimleiterin um den Hals und küsst sie auf die Wangen. Sie freut sich wie ein kleines Kind, denn Stefania Diaconu, die Leiterin des Casa Iuda, hat heute Geburtstag und sich mit einem Kleid mit weißen Punkten herausgeputzt. Atie kommt aus Constanţa am Schwarzen Meer aus einer Familie mit zwölf Kindern. „Ich habe nie eine Schule besucht. Als ich sieben Jahre alt war, haben mich meine Eltern auf die Straße und die Müllhalde geschickt. Wenn ich kein Geld mit nach Hause brachte, hat mich mein Vater verprügelt.“ Mit 13 Jahren hat Atie ein Kind bekommen. Der Bub, sagt sie leise, Fernando heißt er, ist bei ihrer Tante, die ihr nicht erlaubt, ihn zu sehen. Was erhofft sie sich von ihrem Leben? „Ich möchte einen Personalausweis. Dann kann ich arbeiten. Wenn ich Kinder habe, schicke ich sie nie auf die Müllhalde, ich schicke sie in die Schule“, sagt sie schnell und bestimmt. Am Abend drehen die Jugendlichen auf der Dachterrasse die Musik lauter. Atie trommelt. „Ich bin Romni, ich höre auf die Musik und fühle sie. Das liegt mir im Blut.“ Heute darf ein wenig Party gemacht werden. Die Kinder tanzen sich die Schwere aus dem Leib, pfeifen, klatschen, singen und lachen ausgelassen.
Preisniveau wie in Österreich
Die 22-jährige Mihaela kommt am Nordbahnhof hinzu. Sie sieht noch nicht so verwahrlost aus, doch in ihrer Hand hat sie einen schwarzen Plastiksack mit Lack. Nein, lange ist sie noch nicht auf der Straße. Sie bittet um ein Foto, das sie ihrer Mutter schicken kann, die im Gefängnis sitzt. Costèl ist 23 Jahre alt. Sein Gesicht ist voller Schnitte, er sieht älter aus, als er ist. Seit drei Monaten lebt er nun im Sozialzentrum Lazarus. Regelmäßig begleitet er den Streetworker, um auch andere dazu zu bewegen, mitzukommen. Er versucht zu erklären, warum er es länger nicht geschafft hat, von hier wegzukommen: „Auf der Straße gab es Freiheit. Wir konnten dort tun, was wir wollten.“ Doch am Nordbahnhof wacht einer über alle: „Bruce Lee“, „Capo“ nennen sie ihn. „Er ist der Boss, er kümmert sich um uns“, sagt einer. In Wahrheit versorgt er sie mit Stoff und hält sie abhängig. Er gehöre zu einer Art Mafia, sagen die Betreuer. „Im Kanal gibt es keine Zukunft. Solange man dort unten ist, hat man keine Perspektive“, weiß Fabian Robu. Während er die Wohngemeinschaften für die Jugendlichen in Bukarest zeigt, erzählt er uns von Robert. „Mit zwölf Jahren kam er zu uns. Er hat gut gelernt, heute arbeitet er in Wien. Ich bin zu seiner Hochzeit eingeladen. Es ist wirklich gut, auch Erfolge sehen zu können. Einer hat es geschafft.“ Anfangs konnte er mit den Jugendlichen nichts anfangen, suchte vergebens nach Erfolgen. Er wollte aufgeben. Da habe ihm Pater Georg Sporschill, der Gründer von Concordia, gesagt: „Ich verstehe das, aber ich brauche keine Erfolge von dir. Sei einfach für sie da, wie eine Mutter.“ Ein kleiner Junge, vier Jahre alt, wurde heute in einer Wohngruppe aufgenommen. In seiner Wohngruppe sitzt er stumm auf der Couch, er schaut traurig in die Ferne und sagt kein Wort. Robu fragt nach seinen Namen, doch er schaut zur Seite. Er fasst ihn an seinem kleinen Schuh und fragt noch einmal. Doch er schweigt. Die anderen Kinder der Wohngruppe haben ihn in ihre Mitte genommen und umarmen ihn.
Die Jugendlichen auf der Straße sind nicht nur das Resultat von Ceauşescus Diktatur, sondern auch der anhaltenden Armut in dem EU-Land. Eines der größten Probleme Rumäniens ist die Korruption. Dass sie völlig alltäglich ist, hängt stark mit dem Gehaltssystem zusammen. „Wir haben kommunistische Gehälter, aber europäische Preise“, so Cornelia Burtscher, die seit eineinhalb Jahren im Land lebt. Die Ware im Supermarkt erreicht ähnliche Preisniveaus wie in Österreich, auch Energie- und Kraftstoffpreise sind kaum billiger als hier. Laut Eurostat waren 42 Prozent der RumänInnen 2012 von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht, nur in Bulgarien ist der Wert mit 49 Prozent noch höher. Selbst ein Arzt verdient im Schnitt nur 400 Euro im Monat. Für jede Behandlung halten viele die Hände für Extra-Geld auf. Es funktioniert, denn sonst bekämen die PatientInnen weder Operationen noch Impfungen, das Bestechungsgeld entscheidet auch darüber, ob ein Kaiserschnitt gemacht wird oder nicht. Auch das Bildungssystem ist korrupt. Es geht nicht um einen guten Platz für sein Kind, sondern darum, überhaupt einen Platz zu bekommen. Laut der NGO „Transparency International“ liegt Rumänien bezüglich Korruption an der 69. Stelle von 177 erfassten Staaten. Die niedrigen Gehälter führen zu Armut, zu Überforderungen in der Familie. Denn lächerlich gering ist auch die Kinderbeihilfe von monatlich 97 Lei, umgerechnet 20 Euro. Die Sozialhilfe beträgt 30 Euro, ob man sie überhaupt bekommt, hängt von der Kompetenz und vom Gutdünken der zuständigen BeamtInnen ab, schildert Palcu von der Diakonie. Die Regierung hat das Programm „Milch und Brot“ ins Leben gerufen: Kinder bis zur vierten Klasse, die die Schule besuchen, erhalten ein Kipferl und ein Päckchen Milch. Satt wird man davon nicht.
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