Nervenschwäche
RUBRIKEN. Burn Out erzählt uns, wie wir Zusammenbrechen dürfen ohne uns dafür schämen zu müssen.
POPULÄR GESEHEN | Eine Kolumne von Martin Schenk
„Durch den ins Unangemessene gesteigerten Verkehr, durch die weltumspannenden Drahtnetze des Telegraphen und Telephons haben sich die Verhältnisse in Handel und Wandel total verändert. Alles geht in Hast und Aufregung vor sich, die Nacht wird zum Reisen, der Tag für die Geschäfte benützt, selbst die Erholungsreisen werden zu Strapazen für das Nervensystem.“ Das Zitat stammt aus dem Jahr 1893. Der Arzt Wilhelm Erb erklärt in seiner Zeitdiagnose vor mehr als 100 Jahren was zur Nervenschwäche führe. „Neurasthenie“ wurde zur häufig diagnostizierten Belastungserkrankung. Beschrieben wurde sie bei Angehörigen der städtisch-bürgerlichen Elite als eine nervöse Reaktion auf Überlastung. Als Krankheit der „Kopfarbeiter“ der weißen Mittel- und Oberschichten.
Mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs verschwand das Konzept der Neurasthenie. Die Tausenden Kriegsversehrten ließen andere Krankheitsbilder dominant werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich ein neues Belastungskonzept, die „Managerkrankheit“. Bluthochdruck und Herzinfarkt rafften die Chefs dahin. Im Wiederaufbau und im Wirtschaftswachstum überforderten sich die Firmenleiter, auch hier wurde die Managerkrankheit als ein Problem der Eliten beschrieben. Die Rede vom Stress brachte eine Änderung. Stress können alle haben, er demokratisierte die Belastungsstörung. Studien in den 1990er Jahren ergaben, dass die „Managerkrankheit“ bei Personen aus den untersten Einkommensschichten höher als bei den eigentlichen ManagerInnen ausfällt. Und dann kam das „Burn Out“. Zuerst als Diagnose in helfenden Berufen, dann bei Führungskräften. Jetzt bei allen. Burn Out erzählt uns, wie wir zusammenbrechen dürfen, ohne uns dafür schämen zu müssen. Depression ist Versagen, Burn Out hingegen die erfolgreichere Variante des erschöpften Selbst. Das Ausbrennen weist auf eine Wettbewerbsgesellschaft, die sich ihrer Ziele und Zwecke entgrenzt hat, argumentieren die SoziologInnen Sighard Neckel und Greta Wagner. Immer mehr Bereiche werden der Konkurrenz unterworfen, Wettbewerb definiert die gesellschaftliche Ordnung: jetzt auch das Krankenhaus, den Pflegedienst, die Schule. Die massenkulturelle Begleitmusik spielt in den Castingshows oder inszeniert sich in der Körperkonkurrenz von Next Top Model. Das Problem: Die Rhythmen der Wettbewerbe beschleunigen sich auch in der Erwerbsarbeit. Da hat man als Arbeitskraftunternehmerin immer neu zu bestehen. In der verbleibenden Zeit hat man an der eigenen Wettbewerbsfähigkeit zu arbeiten. Doch Wettbewerbe sind Ausscheidungskämpfe und produzieren VerliererInnen. Da gibt’s viel Anstrengung bei vielen und Anerkennung für wenige. Aber ohne Anerkennung wird es für uns schädlich. Die Konkurrenzideologie will Leistung und Ressourcen vermehren, verbrennt aber gleichzeitig jene menschlichen Potentiale, die sie zu steigern vorgibt. Ein System zeigt Nerven.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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