„Ein tschetschenenfreies Kärnten“
STIGMATISIERUNG. Der Psychologe Siegfried Stupnig arbeitet seit vielen Jahren mit tschetschenischen Flüchtlingen in Österreich. Ein Gespräch über reale Probleme, politische Feindbilder und den schönen Stadtkern von Grosny. Interview: Gunnar Landsgesell
Sie arbeiten seit Jahren mit Tschetschenen in Österreich, was erleben Sie?
Zuerst einmal Ablehnung bei den Fördergebern. Tschetschenische Familien bräuchten dringend Integrationsmaßnahmen, es ist aber oft schon schwer, ein paar Hundert Euro für Fahrtgeld zu bekommen. Posten bei Förderungen werden nicht immer mit Experten besetzt. Man glaubt hier, Geld einsparen zu können, vergisst aber ganz, dass es später viel teurer wird, wenn Jugendliche in die Kleinkriminalität abrutschen oder eine ganze Familie zerbricht. Ich habe über zehn Jahre ehrenamtlich das Projekt einer Fußballmannschaft mit tschetschenischen Jugendlichen betrieben, das gilt als eines der wenigen erfolgreichen Integrationsprojekte in Österreich. Ich denke, dass wir das Schicksal einiger junger Tschetschenen in eine positive Richtung lenken konnten.
Was erzählen Ihnen die Menschen, mit denen Sie zu tun haben?
Da kann man nicht einfach so nachfragen. Es kommen Erlebnisse oft nebenbei im Gespräch heraus, auch von Leuten, von denen man glaubt, da wird nichts ganz Schlimmes passiert sein, weil das Menschen sind, die es ganz gut überstanden haben. Letztens hat mir ein Mann erzählt, er war eine Weile in Geiselhaft, da ist ihm nicht viel passiert, er ist halt geschlagen worden, ein paar Zähne sind ihm ausgeschlagen worden, aber er ist nicht gefoltert worden. So ist also die Selbsteinschätzung. Und zweimal wurde er abgeführt, man hat ihm die Augen verbunden und ihm gesagt, man wird ihn jetzt hinrichten. Es hat dann auch eine Scheinhinrichtung gegeben. Das sind Dinge, die so nebenbei erzählt werden, nicht unbedingt furchtbare Foltergeschichten, aber welche, bei denen man Angst bekommt. Über Gewalt, die von russischen Soldaten, aber auch von pro-russischen und islamistischen tschetschenischen Kämpfern selbst ausgegangen ist. Die Menschen wurden sicherlich extremer Gewalt ausgesetzt. Tschetschenien ist sehr klein, die Wahrscheinlichkeit, dranzukommen dadurch sehr groß. Die Anzahl der Schwersttraumatisierten ist prozentual gesehen wahrscheinlich höher als jene von anderen Ländern.
Tschetschenische Flüchtlinge haben das Image schwieriger Flüchtlinge gepachtet. Ist dieser Ruf für Sie nachvollziehbar?
Tschetschenen wurden besonders in Kärnten in den vergangenen Jahren eher negativ gesehen. Unter Haider und Dörfler trieb man die politische Feindbildkonstruktion voran. Die langjährige Russland-Korrespondentin Susanne Scholl wies darauf hin, dass es schon eine negative mediale Darstellung gab, bevor Tschetschenen als Flüchtlinge nach Österreich kamen. Sie wurden in den beiden jahrelangen Kriegen sehr negativ dargestellt, man wärmte das alte Feindbild der Kaukasier auf. Jelzin stellte sie als Banditen dar, Putin als Terroristen. Dieses Bild ist zu uns übergeschwappt. Einzelne Straftaten nützte man dann, um dieses pauschale Urteil zu bestätigen. Da klinkte sich auch Haider ein. Er hatte eben das BZÖ gegründet und versuchte, 2006 in den Nationalrat zu kommen. Eines seiner Themen waren Flüchtlinge. Sie erinnern sich an Haiders Slogan vom „tschetschenenfreien Kärnten“. Auslöser war damals eine Schlägerei auf einem Kinderspielplatz in Klagenfurt, wo es zwischen tschetschenischen und kärntnerischen Jugendlichen zu einer Schlägerei kam. Erst später berichteten die Medien genauer: dass es sich bei den Kärntnern um vorbestrafte Jugendliche aus der rechten Szene gehandelt hatte. Dieser Angriff, gerade in Wahlkampfzeiten, klingt fast nach einer Inszenierung.
Was ist von diesem BZÖ-Sager des „tschetschenenfreien Kärntens“ stimmungsmäßig in der Bevölkerung geblieben?
Ich bin öfters in Schulen in Kärnten für Workshops unterwegs, das ist unter 16-, 17-Jährigen aktuell kein Thema. Es gibt derzeit keine politischen Scharfmacher, vor allem nicht in der Regierung. Das ist auf jeden Fall besser geworden.
Das Medien- und Politgeschäft ist die eine Seite. Mich würde aber auch interessieren, wie Sie als Psychologe die Menschen wahrnehmen. Liegt Trauma und Gewalt nicht ganz nahe beieinander?
Ja, natürlich werden bei nicht aufgearbeiteten Traumata Gewalterfahrungen auch weitergetragen. Ein Beispiel: Die Mutter eines Problemkindes hat mir vor kurzem erzählt, der Bub hat als Kind miterlebt, wie – wahrscheinlich betrunkene – russische Soldaten ein paar Mal mitten in der Nacht gekommen sind und nach dem Vater gesucht haben. Das Kind war fünf Jahre alt, ist in Panik unter das Bett gekrochen. Er hat erlebt, wie die Soldaten die Mutter bedrohen und alles kurz und klein schlagen. Kinder haben mehrfach mitbekommen, wie bei Säuberungsaktionen Väter unter demütigenden Bedingungen verhaftet wurden. Gut möglich, dass sich ein Erwachsener mit diesen Erfahrungen später in der Position sieht, Rache zu nehmen. Jetzt ist er nicht mehr in der Rolle dessen, der sich unter dem Bett verkriechen muss. So eine unheilvolle Wendung vom Passiven zum Aktiven ist möglich.
Allgemeine Sorge gibt es auch über so genannte Jihadisten. Auch Tschetschenen sind betroffen, wie wird das diskutiert?
Wenn sich Außenseiter extrem brutalen Terrorbanden anschließen, bereitet einem das Sorgen. Auch liberale Tschetschenen 34 sind darüber entsetzt und sie selbst haben dadurch mit pauschalen Urteilen zu tun. Aber auch konservative, national orientierte Tschetschenen, die in der Unabhängigkeitsbewegung gekämpft haben, sind besorgt. Sie sagen, wir haben in Syrien nichts verloren, und wenn unsere Kinder nicht hier bleiben wollen, sollen sie wenigstens in Tschetschenien kämpfen. Das halte ich persönlich auch für keinen guten Ansatz, es zeigt aber, dass Eltern kein Verständnis für solche Entscheidungen haben. Ich kenne einzelne Biographien von solchen Leuten, was sie verbindet ist ein erlebter Mangel an Perspektiven und teils auch Psychiatrie-Erfahrungen.
2012 reisten FPÖ-Mandatare rund um Johann Gudenus auf geheime Mission nach Tschetschenien. Gudenus sagte, sie konnten sich selbst überzeugen, dass keine Verfolgung seitens des Präsidenten Ramsan Kadyrow vorliegt.
Nach meinem Wissen hat sich Gudenus nur mit Kadyrow und dessen Umfeld unterhalten. Ich denke, man sieht, was man sehen will und was einem gezeigt wird. Wenn man mit dem Auto durch den Stadtkern von Grosny fährt, sieht der sicherlich schön aus. Barbara Gladysch, eine anerkannte Tschetschenien-Expertin, die von 1996 bis 2011 über zwei Dutzend Male dort war, auch während des Krieges, spricht hingegen von einem Angstfrieden. Sie fährt seit drei Jahren nicht mehr hin, weil sie schon während ihrer letzten Besuche unter Aufsicht gestellt wurde. Kadyrow hat kein Interesse, dass objektive Berichte in die Welt kommen. Auch für Memorial, die große russische Menschenrechtsorganisation, wird es immer schwieriger, aus Tschetschenien zu berichten. Nach reihenweise ermordeten Journalisten wie Anna Politkowskaja oder Natalja Estemirova werden bis heute kritische Stimmen zum Schweigen gebracht.
Der Krieg in Tschetschenien ist offiziell beendet, auf welche Weise wird weiterhin Gewalt ausgeübt?
Gewalt findet heute zielgerichteter statt. Haben Säuberungsaktionen der russischen Armee früher jeden getroffen, so sind es heute ausgesuchte Familien. Ramsan Kadyrow hat eine Struktur aufgebaut, durch die er den Großteil des Landes kontrollieren kann. Wenn ihm mitgeteilt wird, dass aus einer bestimmten Familie jemand in die Berge gegangen ist, um sich dem Widerstand anzuschließen, dann wird diese Familie unter Druck gesetzt. Es trifft nun die, die es aus Kadyrows Sicht „verdient“ haben. Unlängst hat mir ein junger Tschetschene erzählt, der mit acht Jahren das Land verlassen hat und jetzt Medizin studiert, er hat seine Großeltern besucht und dass viele Leute Angst hätten. Sie fühlen sich eingesperrt wie in einem großen Käfig. Immerhin muss man zugestehen, dass Kadyrow es geschafft hat, dass keine Bomben mehr fallen. Auch dass Tschetschenien mit russischen Geldern strukturell ausgebaut wurde. Der Frieden wird aber durch ein Gewaltsystem erhalten.
ZUR PERSON Siegfried Stupnig
Siegfried Stupnig, ausgebildeter Psychologe aus Kärnten, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Tschetschenen und Tschetscheninnen in Österreich und gilt als einer der besten Kenner der Flüchtlingsgruppe. Stupnig ist u.a. beim Verein Aspis aktiv, der traumatisierten Menschen Hilfe anbietet. In diesem Jahr hat Stupnig eine Sommerschule mit Kindern geleitet, die vom Österreichischen Integrationsfonds gefördert wurde. Projekte in Gemeinden wie etwa eine geplante Tanzveranstaltung in Klagenfurt und Villach sind sowohl dazu angetan, Begegnungen zwischen ÖsterreicherInnen und TschetschenInnen zu schaffen, wie auch die äußerst heterogene tschetschenische Gesellschaft in Kontakt zu bringen.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo