Die einsprachige Schule
SPRACHKOMPETENZ. Die Aufregung um Türkisch als Maturafach zeigt, wie schwierig sich Mehrsprachigkeit in der Bildungsdebatte vermitteln lässt. Während der Muttersprachenunterricht in Wien seit über 40 Jahren existiert, sind öffentliche bilinguale Schulen nicht vorhanden. Auch für die serbische Gemeinde gibt es kein derartiges Angebot. Text: Stefan Kraft
Tatjanas Tochter wächst in einem zweisprachigen Haushalt auf, aber in einem offiziell einsprachigen Bundesland. Tatjana ist eine von ca. 200.000 SerbInnen, die im Großraum Wien wohnen, oder besser gesagt: Eine von 200.000 WienerInnen mit Wurzeln in Serbien oder eine von etwa 250.000 WienerInnen, deren Familie aus (Ex-)Jugoslawien hierher kam. Ihre Tochter zählt zur so genannten dritten Generation, sie wird zweisprachig aufwachsen, aber ihr Unterricht in Kindergarten, Volksschule und Mittelschule wird auf Deutsch verlaufen.
Dafür ausschlaggebend könnte auch die Selbstverständlichkeit sein, mit der Deutsch in der öffentlichen Debatte als „Leitsprache“ propagiert und festgelegt wird. Der Pflege der Erstsprache haftet oftmals der Verdacht an, hier schotte sich eine Gruppe von der (deutschsprachigen) österreichischen Gesellschaft ab. Dr. Rudolf de Cillia, Sprachwissenschafter an der Uni Wien, sieht das anders. In einer vom Bildungsministerium verbreiteten Broschüre nennt er gute Gründe gegen diese Argumentation: „Die zentrale Rolle der Muttersprache oder Erstsprache für die sprachliche Entwicklung eines Kindes und für den Schulerfolg ist spätestens seit den Sechzigerjahren pädagogisches Allgemeingut.“ Gerade der Erwerb der Sprachfähigkeit in der Erstsprache (z. B. Serbisch) fördere aber das Erlernen der Zweitsprache (also etwa Deutsch) entscheidend, weil Kinder damit besser in der Gesellschaft verankert würden, so de Cillia.
Nur wenige bilinguale Schulen
Es gibt mittlerweile eine Vielzahl an Angeboten für die Förderung der Muttersprache in Österreich, zweisprachigen Unterricht für die serbische Gemeinde zu installieren, hingegen nicht. Auch die „Gastarbajteri“ haben in gut 40 Jahren keine eigenen Schulen geschaffen. Dazu kommt noch die spezielle Sprachenproblematik, die seit dem Zerfall Jugoslawiens herrscht: Was früher unter „Serbokroatisch“ im österreichischen Ausbildungssystem geführt wurde, wird nun als „B/K/S“ bezeichnet, eine Abkürzung für die drei Sprachen Bosnisch, Kroatisch und Serbisch. Obwohl die Unterschiede minimal sind, übernimmt man hier ein politisches Ziel der drei Länder, sich jeweils, auch sprachlich, voneinander abzugrenzen. So ist es wohl auch zu verstehen, diese Sprache(n) unter einer Bezeichnung zusammengefasst zu führen.
„Man hat 150 Jahre lang versucht, die Mehrsprachigkeit in den Nationalstaaten Europas auf Einsprachigkeit zu reduzieren“, meint der in Wien ansässige Historiker Wladimir Fischer. Er forscht intensiv zur Geschichte von Identitätsmanagement und zur Selbstrepräsentation von MigrantInnen, von denen einige schon in der Monarchie um eigene Schulen kämpften. Ein Viertel der Wiener um 1900 waren TschechInnen, die es allerdings bis zum Ersten Weltkrieg nur zu einer einzigen eigenen Schule brachten. Auch heute existiert wieder eine tschechische Schule im 3. Wiener Gemeindebezirk, wo von Kindergarten bis zur Matura Zweisprachigkeit möglich ist. Sie ist eine von wenigen so genannten bilingualen Schulen mit Öffentlichkeitsrecht in Wien. Ihnen gemeinsam ist, dass sie allesamt privat geführt werden und für sie ein (oftmals hohes) Schulgeld fällig wird. Neben der tschechischen Schule gibt es unter anderem das französische Lycee, mehrere Schulen mit englischsprachigem Unterricht, arabische, schwedische und japanische Einrichtungen. In einer Informationsbroschüre der Stadt Wien heißt es dazu: „Nachgefragt wird dieses elitäre Bildungssystem der International Schools (...) in erster Linie von Personen, welche in der Führungsebene internationaler Unternehmen und -organisationen sowie Botschaften tätig sind, das betrifft rund 1 Prozent aller Wiener SchülerInnen.“ Dazu meint Elfie Fleck vom „Referat für Migration und Schule“ im Bildungsministerium, dass es sich bei diesen Schulen nicht wirklich um bilinguale Einrichtungen handeln würde – denn Deutsch würde laut Fleck nur als Fach, nicht als allgemeine Unterrichtssprache vorkommen.
Politische Eliten fehlten
Doch wie sieht es für SchülerInnen mit serbischer oder türkischer Muttersprache aus? Während ein (privates) türkisches Gymnasium im Gespräch ist, gibt es keine Schule, die Kindern mit serbischen Wurzeln die jeweiligen Fächer in ihrer Erstsprache näher bringt. Das hat auch mit der langjährigen Einstellung der GastarbeiterInnen zu tun, die anfangs davon ausgingen, recht bald wieder in ihrem Heimatland zu leben und ihre Kinder dort in die Schule zu schicken. Žarko Radulović, als Leiter der „MedienServicestelle Neue Österreicher/innen“ des Öfteren mit der Bildungsproblematik für MigrantInnen befasst, erinnert sich noch daran, dass er als Kind den weiten Weg von Wien nach Perchtoldsdorf unternehmen musste, um dort am Samstag vormittag eine Schule für „muttersprachlichen Zusatzunterricht“ zu besuchen. „Meine Eltern waren damals wie viele Gastarbeiter davon überzeugt, bald wieder nach Jugoslawien zurückzukehren. Deswegen sollte ich die Sprache lernen.“ Weshalb die jugoslavische/serbische Diaspora nicht darauf drängte, dass Serbokroatisch (wie die Sprache damals offiziell hieß) viel stärker in das österreichische Pflichtschulsystem übernommen würde, erklärt Wladimir Fischer so: „Unter den jugoslavischen Gastarbeitern gab es keine politische Elite, die solche Projekte vorangetrieben hätte. Im Gegensatz zu den Türken kamen auch kaum politische Flüchtlinge aus Jugoslawien hierher.“ Elfie Fleck vom Bildungsministerium bestätigt, dass die Etablierung von bestimmten Sprachen an den Schulen „auch vom Interesse der Zielgruppe abhängt“.
Dennoch hat Österreich den so genannten Muttersprachen-Unterricht 1972 eingeführt. Im Gegensatz zu einer echten mehrsprachigen Schule erlernen die SchülerInnen dabei nur die jeweilige Sprache im Ausmaß von einigen Wochenstunden. Die Teilnahme beruht auf Freiwilligkeit. Seit 1992 ist dieser Unterricht regulärer Teil des österreichischen Schulwesens, und hat sich von einem Angebot für „Gastarbeiterkinder“ zu einem Programm für alle möglichen Erstsprachen entwickelt. Mittlerweile 23 Sprachen sind davon erfasst.
„Schulinterne Konkurrenz“
Verfügbare Zahlen aus dem Jahr 2012 zeigen, dass mehr als die Hälfte aller VolksschülerInnen in Wien (52,9 Prozent) eine andere Erstsprache aufweisen als Deutsch, bei den HauptschülerInnen sind es sogar 64,1 Prozent. Der überwiegende Teil entfällt neben türkischstämmigen Kindern und Jugendlichen auf jene aus Ex-Jugoslawien, die mit der Muttersprache „B/K/S“ (Bosnisch/Kroatisch/Serbisch) geführt werden. Dennoch beschränken sich alle auf der Webseite des Stadtschulrats publizierten bilingualen Schulversuche auf die so genannten EU-Sprachen wie Englisch, Französisch, Italienisch oder Spanisch, sowie auf Slowakisch, Tschechisch und Ungarisch. Serbisch hat es auch deshalb nicht leicht, weil es als eigenes Fach gar nicht bestehen kann: „Da in Österreich die Sprachbezeichnung B/K/S in den Schulen lautet, ist es noch nicht möglich, Serbisch im Regelunterricht zu etablieren. Es gibt deswegen Bestrebungen, den Serbisch- wie auch Kroatischunterricht im Rahmen der Privatvereine in Wien anzubieten“, meint Gordana Ilić Marković. Sie unterrichtet am Institut für Slawistik der Universität Wien und hält auch Seminare für muttersprachliche LehrerInnen ab. Nach jahrelangen Bemühungen erreichten sie und eine Gruppe von KollegInnen der Handelsakademie des bfi Wien, dass B/K/S als Unterrichtsfach (zweite lebende Fremdsprache) an der Schule seit 2011 angeboten wird und die SchülerInnen in dieser Sprache maturieren können. Das Modell wurde auch vom Gymnasium am Henriettenplatz übernommen. „Damit wird die Sprache B/K/S als Fremdsprache ins Regelschulwesen übernommen, was ein sehr gutes Zeichen ist in einer Stadt, in der diese sogenannte neue Minderheit so zahlreich ist“, sagt Ilić Marković. Warum Serbisch beziehungsweise B/K/S nicht häufiger als Fremdsprache angeboten wird, hat laut Elfie Fleck vom Bildungsministerium auch praktische Gründe: Es gebe eine „schulinterne Konkurrenz unter den Sprachen“, viele, möglicherweise schon pragmatisierte, FremdsprachenlehrerInnen hätten Befürchtungen, dass sich zuwenig SchülerInnen für ihr Fach melden könnten.
Aussicht für Tatjanas Tochter auf von der Stadt oder vom Staat errichtete bilinguale serbisch-deutsche Schulen sieht die Slawistin Gordana Ilić Marković vorläufig nicht. Einzig ein privat finanziertes Projekt sei derzeit denkbar. „Man geht hier den falschen Weg“, sagt sie, „denn durch private Schulen werden die Kinder erst recht separiert“.
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