Trotz Arbeit zu wenig abgesichert
DOSSIER. Wir gehen auf ein neues Problem zu, das der Altersarmut, sagt die Sozialwissenschaftlerin Karin Heitzmann. Sie kritisiert, dass die Politik zu wenig unternimmt, um Armutsbetroffene zu entlasten. Sowohl aktuell am Arbeitsmarkt, wie auch für die Pension. Interview: Clara Akinyosoye
Früher war arm, wer keine Arbeit hatte. Und wer Arbeit hatte, konnte sich das Leben leisten. Das gilt heute nicht mehr. Wieso?
Erwerbsarbeit liefert immer noch einen guten Schutz gegen Armut. Bei Menschen, die erwerbstätig sind, ist die Armut wesentlich geringer verbreitet. Aber die Vollzeitbeschäftigung hat abgenommen und Teilzeitarbeit und atypische Beschäftigungen haben zugenommen. Dadurch wird Armut verstärkt. Man muss aber bei der Berechnung aufpassen. Wir berechnen Armut nicht pro Individuum sondern pro Haushalt. Armut bedeutet nicht gleich, dass Menschen Niedriglohnarbeit verrichten.
Sie meinen, wenn zum Beispiel der Mann gut verdient, aber die Frau nicht arbeitet und drei Kinder versorgt werden müssen?
Genau. Sobald drei und mehr Kinder da sind, ist die Wahrscheinlichkeit als arm zu gelten, größer. Das Problem wird verstärkt, wenn es nur ein Einkommen oder Phasen gibt, in denen nicht gearbeitet werden kann. Das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe können den Erwerbslohn nicht kompensieren. Auch das Kindergeld kann den Einkommensverlust nicht ausgleichen. Neu ist das Problem aber nicht. Allerdings hat sich der Arbeitsmarkt verändert. Diese Flexibilisierung des Arbeitsmarktes im Sinne der Liberalisierung hat man zugelassen. Das ist nicht von heute auf morgen geschehen. Ich bin nicht optimistisch, dass das anders werden wird. Die Menschen hanteln sich irgendwie von Arbeit zu Arbeit und sind weniger abgesichert als früher. Wir gehen damit aber auf ein neues Problem der Altersarmut zu. Unser System belohnt lange Beschäftigung in Form einer hohen Pension. Was jetzt passiert, wird sich in der Pensionshöhe widerspiegeln.
Das trifft schon heute besonders Frauen. Ist das nicht auch ein Versagen der Frauenpolitik?
Trotz dieses Wissens wird relativ wenig gegengesteuert. Und die Atypisierung gilt nicht mehr länger nur für Frauen. Es wird auch mehr Männer treffen. Wir haben in Österreich keine echte Grundpension. Sie hängt immer davon ab, wieviel man gearbeitet hat. Arbeit gibt es genug – Familien-, Betreuungs- und Pflegearbeit zum Beispiel. Das Problem ist, dass die so nicht in der formellen Erwerbsarbeit angeboten werden.
Ist die Mindestsicherung ein geeignetes Instrument gegen Armut und erreicht sie alle, die sie brauchen?
Wir wissen noch nicht viel, weil es sie erst seit 2010 gibt. Aber die Mindestsicherung kann die Menschen gar nicht über die Armutsgrenze heben, weil sie darunter angelegt ist. Trotzdem ist sie eine Verbesserung. Die Menschen sind gesundheitlich abgesichert und bekommen unabhängig davon in welchem Bundesland sie leben gleich viel Geld. Nach wie vor gibt es aber eine ungleiche Verteilung. Wien zahlt am meisten aus. Das liegt wohl daran, dass in den Bundesländern die Stigmatisierung und die Scham noch höher sind. Wir wissen nicht wie viele Menschen die Mindestsicherung nicht in Anspruch nehmen, obwohl sie könnten. Manche wissen vielleicht auch zu wenig über die Leistungen Bescheid. Schätzungen zufolge könnten österreichweit doppelt so viele Menschen Mindestsicherung beantragen. Es gibt aber auch konservativere Schätzungen.
Ist der Diskurs über Armut Schuld, dass sich Menschen schämen ihre Situation zu offenbaren?
Es gibt Studien, die vergleichen wie Länder über Armut berichten. Da gibt es große Unterschiede. In den USA zum Beispiel läuft der Diskurs in Richtung „Armut ist selbstverschuldet“ und in den klassisch sozialdemokratischen skandinavischen Staaten wird deutlich positiver berichtet. Es geht sehr stark um würdige und unwürdige Arme. Würdig, das sind die Familien. Unwürdig, das sind die Obdachlosen und Bettler. Sie werden nicht gezeigt. Im Diskurs schwingt immer viel Ideologie mit. Wer ist überhaupt würdig Hilfe zu bekommen? Nur wer fleißig gearbeitet hat? Eine Gerechtigkeitsdebatte wird aber nicht geführt.
Die Statistik Austria hat kürzlich die aktuellen Zahlen zu Armut präsentiert. Obdachlose Menschen waren da auch kein Thema.
In diesen Berichten sind nur Menschen, die in privaten Haushalten leben, drinnen. Menschen, die in einem Heim oder obdachlos sind, werden nicht erfasst. Das heißt, es fehlt eine große Gruppe armer Menschen. Die Berichte beruhen auf Befragungen und dafür braucht man eine Adresse. Diese Zahlen sind immer nur eine Annäherung.
Wenn es um Armut geht, dann ist meist Afrika Thema. Hat auch Europa ein Armutsproblem?
Das ist eine Frage der Definition. Wenn wir von absoluter Armut sprechen, dann haben wir kein Problem – zumindest nicht in den westlichen Ländern. Wenn wir von Armutsgefährdung, also relativer Armut, sprechen, sieht das anders aus. Relevant ist, was für uns ein menschenwürdiger Lebensalltag ist. Es gibt interessante Ergebnisse aus der Glückforschung. Wichtig für die Zufriedenheit eines Menschen ist der Vergleich zu seinem Nachbarn. Wenn der deutlich mehr hat als ich, dann bin ich viel unglücklicher, selbst wenn ich weiß, dass es mir im Vergleich zu jemand anderem hervorragend geht. Deshalb sind gerechtere Gesellschaften glücklicher. Und da ist erst in zweiter Linie wichtig, wieviel diese Gesellschaft überhaupt zur Verfügung hat. Eines der glücklichsten Länder ist Bangladesch, weil dort die meisten Menschen einen ähnlichen Standard haben.
Bei uns geht es beim Armutsbegriff weniger ums Überleben, sondern darum ob man in der Gesellschaft teilhaben kann. Wenig Geld heißt auch wenig Sozial-, und Kulturleben. Im EU-Vergleich stehen wir nicht schlecht da. Das macht es politisch leichter zu sagen: es läuft eh gut.
Macht die Politik denn zu wenig?
Wir machen seit etwa 15 Jahren Armutserhebungen. Wir haben immer eine ziemlich gleich bleibende Struktur. Es sind vor allem Alleinerzieherinnen, Großfamilien, Personen mit Migrationshintergrund, Menschen mit geringer Ausbildung. Man kann genau sagen wo und wieso. Und trotzdem tut man zu wenig, um genau für diese Menschen etwas Gruppenspezifisches anzubieten. Der Niedriglohnsektor bricht uns weg. Die Produktion wird in andere Länder verlagert. In einer globalisierten, arbeitsteiligen Gesellschaft müssen wir uns auf die Ressource Wissen konzentrieren. Langfristig ist da Bildung ganz entscheidend. Kurzfristig: Wir wissen welche Gruppen arm sind. Ich verstehe nicht, warum es nicht möglich ist, die Menschen gezielter zu entlasten.
Wenn man einmal arm ist, wie schwierig ist es, wieder rauszukommen?
Laut den Zahlen gibt es eine hohe Fluktuation. Das sind Menschen, die immer rund um die Armutsgrenze leben. Irgendwann ist das Kind groß und der Haushalt ist kleiner oder es gibt wieder Erwerbsarbeit. Das trägt dazu bei, dass sich die Lage verändert. Aber wir haben strukturelle Armut. Die Faktoren kennen wir. Man müsste selektiv darauf reagieren.
Wie sehen Sie die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens?
Generell halte ich ein bedingungsloses Grundeinkommen für eine gute Idee, wenn es darum geht, die Leute vom quasi Überleben zu entlasten. Dann müsste es aber auch eine dementsprechende Höhe haben. Aber ich halte es für politisch nicht durchsetzbar. Skeptisch bin ich allerdings was die liberale Ausrichtung des Grundeinkommens betrifft. Das heißt: Jeder kriegt ein Grundeinkommen und that‘s it. Damit muss man dann alles abdecken. Die Bedürfnisse der Menschen sind sehr unterschiedlich. Es gibt Menschen, die krankheitsanfälliger sind. Für die ist der Betrag X eine andere Größe als für jemanden, der keine Probleme hat. Ich bin für eine echte Grundsicherung: Wir legen auf gewissen Ebenen Standards fest, sei es bei der Arbeit, Gesundheit oder Mobilität, und unter die soll niemand fallen. Einkommen ist ein Teil davon.
Diese Grundsicherung soll aber auch bedingungslos sein?
Das ist etwas was man sich in einer Gesellschaft aushandeln muss. Letztlich geht es darum, was man für ein Menschenbild hat und was man möchte, dass die Menschen zugesichert bekommen und was sie sich selber verdienen müssen. Und da gibt es je nach dem wo man lebt unterschiedliche Ansichten. In Skandinavien ist der Bürgergedanke sehr stark ausgeprägt. Da fühlt sich die Gesellschaft dafür verantwortlich, dass es den Leuten gut geht. Und Besserverdienende verzichten gerne auf einen Anteil ihres Einkommens, um das zu bewerkstelligen. Dann haben wir eher liberale Gesellschaften, wo es fast als obszön bewertet wird, dass man sich auf einen Sozialstaat verlässt. Ich persönlich glaube, dass die Gesellschaft eine Verantwortung hat, Menschen, die benachteiligt sind, zu unterstützen. Wir sind nicht alle von Anfang an gleich und sollten nicht so tun als ob.
Karin Heitzmann ist Soziologin und Wirtschaftswissenschaftlerin. Sie ist Assistenzprofessorin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien und leitet dort die Forschungslinie „Armut und soziale Ausgrenzung.
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