Das lange Warten
„Friedhof der Flüchtlinge“, so nennen syrische Flüchtlinge Oberösterreich untereinander. Auch in der kleinen Gemeinde Waldzell im Innkreis warten 24 Männer aus Syrien seit Mitte September 2014 auf ihren Bescheid. Ein Stimmungsbericht. | Reportage und Fotos: Nermin Ismail
Waldzell, eine kleine Gemeinde im Bezirk Ried im Innkreis in Oberösterreich. Der Ort ist das, was man verschlafen nennt. Am Dorfplatz thront eine Statue von Andreas Goldberger, einem österreichischen Skispringer. Man ist stolz auf den Waldzeller. Daneben gibt es noch einen Supermarkt, eine gotische Kirche, eine Schule und zwei Wirtshäuser. Mitten im Ort, gegenüber dem Hauptplatz, liegt der stattliche Georgshof. Zuletzt blieben die TouristInnen aus, das Hotel meldete Konkurs an. Seit vergangenem September ist im Georgshof eine Gruppe syrischer Kriegsflüchtlinge untergebracht. Im Speisesaal harren sieben oder acht von ihnen der Dinge. Ihr Bedarf an Gesprächen ist erschöpft, erst unlängst hatte ihnen wieder ein Aktivist Hoffnungen gemacht, dass sich etwas für sie zum Positiven wenden würde. Zu lange warten sie schon, darauf, dass sie ihre Familie nachholen können, auf Beschäftigung, auf Perspektive. Faris (Name geändert, Anm.) ist einer von ihnen. In Syrien war er Zahnarzt, nun ist er Flüchtling. Kaum ein Tag, an dem nicht seine Familie aus dem verwüsteten Kriegsland anruft, wann er sie retten kann. So, wie er es versprochen hatte, damals. Auf arabisch angesprochen, ist der Mediziner doch bereit, ein bisschen über seine Situation zu reden. Wir dachten, das ginge alles ganz schnell, erzählt er. Doch nach der Flucht nach Österreich scheint die Zeit nun still zu stehen. Seine Frau, seine Kinder, sie rufen ständig am Smartphone an, fragen, wo er bleibt. Der Mann steht unter Druck. Das schlechte Gewissen begleitet ihn, hat er seine Familie im Stich gelassen? Von Wien hörte Faris, dass Leute schon nach zwei Monaten die Anerkennung als Flüchtlinge erhielten, er wartet nun schon ein halbes Jahr. Am Tag zuvor hat sein Sohn angerufen und gemeint: „Papa, komm! Lass uns gemeinsam sterben!“ Hätte Faris gewusst, wie sich der Fluchtplan entwickelt, er wäre nie nach Österreich gekommen, erklärt der 38-Jährige. Faris ist einer von 75 syrischen Flüchtlingen, die vor etwa acht Monaten von der kleinen Gemeinde Waldzell aufgenommen wurden. Viele sind schon weggegangen, einige hätten ihre Bescheide erhalten, andere hielten es nicht mehr aus. Er trägt eine Jogginghose und ein T-Shirt.
Zeitlicher Stillstand
„Friedhof der Flüchtlinge“, so nennen die Syrer Oberösterreich untereinander, sagt er verbittert. Hier sitzen Männer, die dem Krieg entkommen sind und ihr Leben dafür aufs Spiel gesetzt haben, um ein neues Leben in Frieden beginnen zu können. Sie sind etwas aufgeregt, aber verdächtig ruhig. Ihre Blicke flüchten ständig. Von ihrer Flucht und der Bootsfahrt sprechen sie am allerwenigsten. Vier Jahre wütet der Bürgerkrieg in Syrien nun schon. Fast vier Millionen syrische Flüchtlinge wurden Anfang des Jahres in den Nachbarländern aufgenommen. 2.410 Syrer haben heuer in den ersten drei Monaten einen Antrag auf Asyl in Österreich gestellt. Während die Politik mit Quoten für die Bundesländer beschäftigt ist, haben diese Menschen ganz andere Sorgen: schlimme Erlebnisse, Sorge um die Familien, das Gefühl, hier nicht willkommen zu sein. Arbeiten zu können, das würde wenigstens ablenken. Doch sie warten, Tag und Nacht.
Nachts kann Faris nicht schlafen. Die Zeit vergeht einfach nicht. Unlängst sind über 1.500 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Faris erzählt von Hunderten, die auf der Flucht umgekommen sind. Die Bootsfahrt war das gefährlichste, Freunde von ihm sind ertrunken. Sein Glaube an einen Neustart gab ihm Hoffnung. Auch ein anderer junger Mann in Waldzell, Ahmed, hatte sich entschieden zu flüchten. Seine schwangere Frau blieb in Syrien. Dass die ganze Familie das Land verlässt, war aus finanziellen Gründen nicht möglich. Das belastet Ahmed. Er blickt auf sein Handy. Sein Hintergrundfoto zeigt seine beiden Kinder; voller Stolz sagt er ihre Namen. Zu bleiben oder zu gehen – in welchem Fall die Überlebenschancen höher sind, kann niemand sagen. Ahmed machte sich vor zehn Monaten auf den Weg. Zwei Monate war er unterwegs, jetzt wartet er seit acht Monaten auf einen Asylbescheid. Sein Kind, das inzwischen geboren wurde, hat er bis heute nicht gesehen. Er sei vorangegangen, um seine Familie zu retten, sagt er. Nun sitzt er hier, in Sicherheit, und kann nichts tun. „Ich könnte jeden Tag, jede Stunde, jede Minute die Nachricht erhalten, dass meine Frau oder meine Kinder getötet wurden. Wozu bin ich dann hier?“
Improvisierte Hilfe
Johann Jöchtl, Bürgermeister von Waldzell, weiß, dass die AsylwerberInnen in Österreich oft in einem schiefen Licht gesehen werden. Ihre Schicksale berühren ihn. Er erzählt von einem weiteren Arzt, einem Urologen unter den Flüchtlingen. Der sei gerade an der Universität gewesen, als sein Dorf angegriffen wurde. Über vierzig seiner Verwandten kamen um. Seine Frau und Kinder versteckten sich in einem Bergtunnel, der Mann konnte flüchten. In Waldzell ist er mit 75 anderen Flüchtlingen gestrandet, 24 von ihnen sind noch im Ort. Einmal die Woche erhalten sie Deutschunterricht von engagierten, pensionierten LehrerInnen. Ursprünglich war geplant, dass die Syrer in einer Volksschule unterkommen, doch das sei nicht menschenwürdig, meinte der Bürgermeister und organisierte das Hotel Georgshof als neue Unterkunft. Eine Übergangslösung, die nun schon acht Monate dauert. Die Männer, viele von ihnen aus der Mittelschicht, an ähnliche Lebensstandards gewöhnt wie die ÖsterreicherInnen auch, leben von Spenden der Bevölkerung und von der Grundversorgung. Die Spenden werden immer weniger, erzählt Sonja Kriechbaumer, die ehrenamtliche Betreuerin der Männer. Vor dem Supermarkt im Ort steht ein Einkaufswagen. Die BewohnerInnen Waldzells können jederzeit einkaufen und den Flüchtlingen spenden, indem sie Einkäufe in den Wagen legen. Die Syrer holen das dann ab und teilen die Lebensmittel auf. Bürgermeister Jöchtl sieht gute Chancen, dass die Männer Asyl bekommen. Doch: „Das Verfahren dauert einfach viel zu lang.“
Sonja Kriechbaumer arbeitet schon seit Jahren hier, zur Zeit für eine Personalbereitstellungsfirma, die den Georgshof kürzlich erwarb. Die 32-Jährige fühlte sich vom ersten Moment für diese Menschen verantwortlich. Nachdem sie hörte, es würden Asylwerber kommen, bereitete sie das Haus vor und empfing die Leute auch selbst. „Immer wenn jemand woanders hin verlegt wird, sind Tränen geflossen. Es bilden sich Freundschaften, das ist klar.“, erklärt sie mit einem verlegenen Grinsen. Mit Händen und Füßen, etwas Englisch, etwas Deutsch verständigen sie sich. Es scheint ganz gut zu funktionieren, schließlich kennen sie sich seit mehr als einem halben Jahr. Die alleinerziehende Mutter hat versucht so gut es geht, auch für ihren Sohn Nico eine Betreuung zu finden, um für die jungen Männer da zu sein. Psychologische Begleitung erhalten die kriegstraumatisierten Männer nicht. Eine weitere Sache, die der Bürgermeister kritisiert: „Für 160 Personen ist eine Begleitperson vorgesehen. Das ist viel zu wenig. Selbst für die Hälfte der Leute wäre das zu wenig.“ Zu knapp seien die finanziellen Ressourcen, heißt es von der Politik immer wieder, wenn es um die Versorgung von AsylwerberInnen geht. Ratlosigkeit, von Waldzell bis Brüssel – auch in der EU hat man bis heute keinen Masterplan entwickelt, wie man mit der Flüchtlingskrise in Syrien und Irak umgehen soll.
Im Fernsehen läuft Al-Jazeera. Sie saugen die Nachrichten auf, das Geschehen verfolgt sie auch hier. „Und was geschieht, wenn ich einen Bescheid bekomme?“ fragt unvermittelt ein junger Mann. „Wo kann ich dann wohnen? Darf ich dann arbeiten?“ Die Unsicherheit ist groß, die Informationen gering, die Kommunikation im Ort, wo kaum jemand englisch spricht, fast Null.
Schwankende Stimmung
Im November gingen einige der Männer in den Hungerstreik. Sie protestierten, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen und forderten eine raschere Abwicklung des Verfahrens und ein Arbeitsrecht. Die Aktion ist bei der Bevölkerung nicht gut angekommen, sagt die Wirtin Maria Peter. „Von unserer Seite wird doch alles getan.“ Und: Es werde schon seinen Grund haben, warum das so lange dauert. Im Wirtshaus gegenüber vom Georgshof sind die Syrer längst Thema. Immer wieder wird diskutiert. Es verstünden nicht alle, warum sie ihre Frauen zurückgelassen haben, die feine Art sei das nicht, hört man am Stammtisch. Flüchtlingen stünden die meisten aber nicht ablehnend gegenüber, schon während der Balkankriege habe man positive Erfahrungen mit Leuten, die hier vorübergehend untergebracht wurden, gemacht. Und nun, wo das Hotel leer steht, sei ja auch keine andere Verwendung vorgesehen, sagt die Wirtin. Solange das so ist, würden immer wieder „welche da sein. Aber eigentlich ist uns lieber, die bleiben, die wir kennen, weil bei denen wissen wir, die stellen nichts an.“ Dass die Männer beschäftigungslos sind, wird am Stammtisch kritisch gesehen. Ihnen werde die Möglichkeit genommen, ihre Zeit nützlich zu verbringen, meint ein älterer Herr. „Wenn jemand ein halbes Jahr aus dem Fenster schaut, ist das frustrierend. Wenn sie eine Arbeit haben, sind sie sicher zufriedener.“ Die Politik sei jedenfalls gefordert, die Entscheidungen zu beschleunigen. Und wozu diskutiere man in Österreich darüber, dass es zu wenige Ärzte am Land gibt, wenn doch auch jemand von den Syrern praktischer Arzt werden kann. Eine Frage, die sich auch die Flüchtlinge selbst stellen. Mehrmals haben sie bereits versucht, mit dem Bundesamt für Asyl- und Fremdwesen in Linz Kontakt aufzunehmen, um Informationen zu erhalten. Antworten erhielten sie keine. Auch Sonja Kriechbaumer stört das. „Diese Menschen haben Familien, die sie retten müssen. Es ist für sie schlimm genug, dass sie alleine hergekommen sind.“
Zu jenen, die sich über die Syrer freuen, gehört die Pensionistin Claudia Hohensinn. Jeden Freitag kommt sie zu Besuch und kocht mit den Syrern. Faris, Ahmed und der 19-jährige Sido freuen sich über ihren Besuch und nutzen diese Gelegenheit, um Deutsch zu üben. „Was kochen Sie heute?“, fragt Sido. Es wird gelacht und geredet. Am Sonntag bringt sie Kuchen mit. Frau Hohensinn wirkt irgendwie froh, dass die Leute da sind. „Sie geben mir viel zurück, bedanken sich immer und geben mir Kraft.“ Es sind einige wenige Momente, die sie auf andere Gedanken bringen. Wenn Frau Hohensinn sie besucht, vergessen sie kurz ihren Schmerz. Es gibt aber auch ablehnende Stimmen im Ort, die Bürgermeister Jöchtl an sein Versprechen erinnern, dass Waldzell nur ein Übergangsquartier sei. Mit den langen Verfahrensdauern zeichnet sich ab, dass dieses Versprechen nicht einzuhalten ist. Der Bürgermeister erklärt sich indes, verweist auf sein soziales Gewissen. Und scheint sich, wohl nicht zu Unrecht, zugleich Sorgen zu machen, wie seine Chancen bei den nächsten Wahlen im Herbst stehen. Vielleicht wird er am Ende ja abgestraft. Aber, so Jöchtl in einem Interview: „Wenn die Leute nicht zufrieden sind, haben sie das Recht, auch jemand anderen zu wählen.“ Inzwischen hat Sido einen positiven Asylbescheid erhalten. Der Syrer möchte in die nächstgelegene Stadt Ried gehen und dort arbeiten.
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