EU trägt Mitverantwortung
Um das Massensterben im Mittelmeer zu stoppen, muss die EU Ursachen bekämpfen statt Drohgebärden gegen Schlepper zu setzen. | Kommentar: Alev Korun
Catania / Sizilien, 5. Mai 2015: Im Hafen ist in der Früh ein Containerschiff mit rund 200 Flüchtlingen an Bord angekommen. Mehrheitlich junge Menschen aus Eritrea, Somalia und Nord-Nigeria entsteigen dem Frachter. Aber auch vier Leichen werden herausgetragen: Mindestens vier Menschen haben die drei Tage lange Fahrt von Libyen nach Sizilien nicht überlebt. Am nächsten Tag erzählt mir die Mitarbeiterin des UNO-Flüchtlingshochkommissariats, dass allein an diesem Tag 40 Menschen umgekommen bzw. ertrunken sind. Das tägliche Sterben ist leider nicht neu: Je unmöglicher es wurde, sicheren EU-Boden legal zu erreichen, desto höher stieg der Preis der bezahlten Fluchthelfer. Und desto tödlicher wurde die Überfahrt.
Und das passiert nicht nur im Mittelmeer.
US-mexikanische Grenze, Mai 2010: Menschenrechtsorganisationen beschreiben die gleiche Todesspirale: Je höher die Grenzzäune und je lückenloser die Polizeikontrolle gegen Migration, desto stärker weichen Migranten auf gefährlichere Routen aus, da diese weniger kontrolliert werden, sagen sie. Und je gefährlicher die Reise, desto teurer die Schleppung, da mehr Risiko. Sie berichten auch von der Folge dieser Politik: Mehr Menschen verenden in der Wüste an der Grenze zwischen USA und Mexiko auf immer gefährlicheren und längeren Routen.
Was die EU aus ähnlichen Erfahrungen von Verschärfung und Abschottung der Grenzen und nach tausenden Toten lernen könnte? Dass höhere Zäune und Mauern Migration nicht stoppen, sondern nur die Totenzahlen erhöhen, solange nicht an den Ursachen von Flucht und Migration angesetzt wird.
Was Fluchtursachen betrifft, befinden wir uns im Jahr fünf eines grausamen Kriegs in Syrien, der neun Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht hat: sechs Millionen im Land selber, drei Millionen in den Nachbarländern. So lange dieser blutige Krieg weitergeht, werden Menschen auch weiter von dort flüchten müssen und ein Teil – bisher übrigens nur 3 Prozent von ihnen – auch nach Europa kommen. Um von Nordnigeria, wo die Terrormiliz Boko Haram wütet, Eritrea mit einem diktatorischen Herrscher oder Somalia noch gar nicht zu reden.
Für diese Menschen kann keine Mauer zu hoch sein, denn sie rennen um ihr nacktes Leben. Um das Massensterben zu beenden, braucht es ein EU-Programm mit dem erklärten Ziel der Lebensrettung – und nicht wie derzeit bloß als Nebenprodukt des „Grenzschutzes“- und legale Wege für die Flüchtlinge.
Ein Teil derer, die über das Mittelmeer kommen, haben keine „klassischen“ Fluchtgründe. Für eine Lösung braucht es auch da vor allem Ursachenbekämpfung von erzwungener Migration statt bloßer Drohgebärden gegen bezahlte Schlepper. Denn ein Großteil der Probleme sind von EU-Regierungen hausgemacht. Beispiel Senegal, wo hunderttausende Menschen von der Fischerei leben. Durch ein Fischereiabkommen hat die EU 2014 das alleinige Recht erkauft, jährlich 14.000 Tonnen Thunfisch vor der senegalesischen Küste zu fischen. Senegalesische FischerInnen dürfen vor ihrer Küste nicht mehr fischen, während die EU ihre Fischbestände leer fischt. Wohlgemerkt für Thunfischkonserven in „unseren“ Supermärkten. Was machen Menschen, denen die Lebensgrundlage entzogen wird und die in ihrem Land kein Auskommen mehr finden? Sie wandern aus. Würde unsere Handelspolitik ihnen ihre Wirtschaftsgrundlage lassen, müssten sie es nicht. Das zweite Feld notwendiger Veränderungen neben der Eindämmung von Kriegen und humanitärer Hilfe sind faire Wirtschaftsbeziehungen, die Länder des Südens nicht mehr plündern und zu unfreiwilliger Migration führen.
ZUR PERSON | Alev Korun
Alev Korun, ist Nationalratsabgeordnete für die Grünen und Vorsitzende des parlamentarischen Menschenrechtsausschusses.
Bisher kommentierten: Heinz Patzelt, Gebrüder Moped, Amira Hafner-Al Jabaji, Simon Inou, Johannes Kopf, Susanne Scholl, Christian Mondl, Joachim Stern, Barbara CoudenhoveKalergi, Klaus Ottomeyer, Renate Csörgits, Monika Kircher-Kohl, Arash und Arman Riahi, Georg Kapsch, Heinz Fronek, Michael Fleischhacker, Franz Fischler, Andrea Schurian, Sandra Frauenberger, Martin Staudinger, Maria Rauch-Kallat, Herbert Haupt, Ulrich Brand, Franz Schnabl, Alfons Haider, Bernhard Kummer, Barbara Stöckl, Herbert Stepic, Dietmar Ecker, Erhard Busek.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo