Ich sehe mich nicht als Heldin
Tom Neuwirth hat 25 Jahre damit verbracht, nicht zu gewinnen, sagt Conchita Wurst. Doch dann schuf er sie, sein Alter Ego, eine schillernde Dragqueen mit Bart, die den Eurovision-Songcontest gewann und nun international Karriere macht. Conchita Wurst über fließende Identitäten, Schönheitsideale, verspürten Druck und darüber, was Tom Neuwirth mit Clark Kent verbindet. Interview: Clara Akinyosoye
Tom Neuwirth hat Conchita Wurst geschaffen. Ist Conchita Wurst eine Kunstfigur oder eine Identität von Tom Neuwirth?
Conchita Wurst: Ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass ich als Conchita eine eigene Identität darstelle. Sie ist eine so starke Facette meiner Persönlichkeit, dass sie einer eigenen visuellen Erscheinung bedarf.
Sie nimmt jedenfalls einen großen Teil Ihres Lebens ein. Wie viel Platz hat Conchita Wurst, jetzt wo Sie so viel Erfolg haben. Und wieviel Platz hat Tom Neuwirth noch?
Viele glauben das nicht, aber es ist sehr ausbalanciert. Es ist eigentlich 50/50. Früher war ich zu 20 Prozent Berufs-Dragqueen und jetzt bin ich es zu 50 Prozent. Ich mache viele Dinge ohne Make-up und Perücke. Wenn ich mich nach einem langen Tag abschminke, die Perücke runter nehme, die Schuhe und die Miederwäsche ausziehe, dann ist das eine Befreiung. Eine Entspannung, die tiefer ist, als wenn ich nach einem langen Arbeitstag nur meine Sneakers wegschmeißen und mich auf die Couch legen würde. Ich sage das nicht, weil ich jammern will. Ich glaube jede Drag-Queen würde mir da zustimmen: Es ist schon auch mit sehr viel Schmerz verbunden. Ohrenclips spürst du vielleicht tagsüber nicht, aber wenn du sie abends runternimmst, glaubst du dir fallen die Ohrläppchen ab. Schon allein deswegen ist es sehr ausbalanciert. Und selbst wenn es dann mal mehr Conchita ist, gibt es immer noch diese Momente, wo Tom im Hotelzimmer ist, und dann fühle ich mich kurz so, als ob ich den ganzen Tag nichts gemacht hätte.
Haben denn die erfolgreichen Jahre als Conchita Wurst Einfluss auf Tom Neuwirth?
Es hat sich viel geändert. Zum Beispiel, dass Träume keine Träume mehr bleiben. Banale Dinge, die mich inspirieren, können zu einem Konzept für ein Video werden oder zu einem Musiktext. Ich habe 25 Jahre meines Lebens damit verbracht nicht zu gewinnen. Jetzt hab ich gewonnen und ich hab mich noch immer nicht daran gewöhnt. Es ist für mich deshalb immer noch ein Privileg in der Früh aufzuwachen, aufzuschreiben was ich geträumt habe, und es irgendwo in dem, was ich kreativ schaffe, wiederzuentdecken. Im Vorfeld war ich zwar auch kreativ und habe eine Kunstfigur erschaffen und ein Konzept für mich erarbeitet, aber wenn ich jetzt mit einer Idee zur Plattenfirma gehe, ist das schon was anderes. Natürlich wird man auf ein anderes Level katapultiert, wenn man auf so einer Plattform (wie dem Eurovision-Song-Contest, Anm.) diese immense Aufmerksamkeit bekommt.
Im fiktionalen Film gibt es viele spannende Alter Egos, die Superhelden sind. Die bürgerlichen Persönlichkeiten sind oft unterschätzt, stehen nicht auf der Gewinnerseite des Lebens. Nehmen wir Clark Kent und Superman als Beispiel. Ist das bei Tom Neuwirth und Conchita Wurst ähnlich?
Das hört sich bekannt an. Wenn man es streng nimmt, habe ja ich gewonnen und nicht Tom. Und Tom zahlt die Rechnungen und macht die Wäsche. Das finde ich großartig. Also ja, das ist ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass ich mich nicht als Heldin sehe. Ich war als Tom aus Starmania bekannt und eine Zeitlang gab es die Aufmerksamkeit. Aber damals wollte und konnte ich nicht verstehen, warum Menschen mich um ein Autogramm oder Foto bitten, obwohl ich gerade privat unterwegs war. Ich war wahnsinnig genervt davon; ich konnte damit nicht umgehen. Ich dachte, dass das einfach nichts für mich ist und habe die Schule fertig gemacht. Meine Liebe zum Gesang und zur Bühne ging aber nicht weg. Und dann habe ich für mich das Konzept gefunden, wie ich mein Leben zu 100 Prozent genießen kann.
Conchita Wurst bricht mit Geschlechtervorstellungen, aber dennoch ist das, was sie repräsentiert, eine schöne, schlanke, junge Frau, also das gängige weibliche Schönheitsideal. Was ist Ihre Vorstellung von Weiblichkeit?
Meine Großmutter hat mich in meiner Wahrnehmung geprägt, was elegant und weiblich ist. Sie ist eine Diva. Und ich liebe Diven. Wenn eine Frau lange Haare hat, ist das für mich weiblich, aber wenn ein Mann lange Haare hat und das gut passt, sieht das auch toll aus. Es verschwimmt. Es gibt für mich diese Stereotypen nicht. Ich finde visuelle platte Schönheit in jedem einzelnen Menschen, den ich sehe. Somit lebe ich ein Konzept, wo Schönheit weder Alter noch Kleidergröße hat. Nichtsdestotrotz bin ich nun mal in diesem Körper, und ich weiß, dass viele Frauen mich darum beneiden, aber mein Großvater hat die gleiche Figur wie ich. Ich habe die Hülle, in der ich lebe, genommen und das Beste draus gemacht. Habe für mich das Konzept gefunden, wie ich mein Leben zu 100 Prozent genießen kann.
Nach Ihrem Sieg beim Songcontest war es auf einmal fast schick, eine Frau mit Bart zu sein. Man hatte das Gefühl, allein durch Ihren Sieg sei Österreich toleranter geworden. Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht, ob Sie und Ihre Botschaft auch so angekommen wären, wenn es nicht Platz 1, sondern Platz 15 geworden wäre?
Ich glaube, dass der Sieg so unerwartet war, dass dadurch alles einen viel größeren Impact hatte. Bis zum Finale war in Österreich alles mit meinem Gesicht und meinen Statements vollgepflastert. Die Menschen konnten nicht anders als sich mit mir zu beschäftigen und mit der Frage: Was ist denn das alles überhaupt? Und ich glaube tief und fest daran, dass Respekt und – wenn man ganz pathetisch sein will – Frieden an Wissen gekoppelt sind. Ich denke, dass viele erst durch den Songcontest verstanden haben, worum es mir geht, was die LGBTIQ-Community bedeutet und was es alles gibt. Die Menschen haben angefangen, selbst zu denken. Ich glaube, das wäre nicht ausgeblieben. Natürlich gab es – von mir aus – auch gespielte Toleranz, die man sich in der Öffentlichkeit ans Revers geheftet hat. Aber wenn man in der Öffentlichkeit respektvoll miteinander umgeht, ist das ein Schritt in die richtige Richtung.
Sie haben oft gesagt, dass Sie nicht Sprecherin für eine Gruppe sind. Dennoch werden Sie als Botschafterin der Toleranz und Sprecherin der LGBTIQ-Community gesehen. Wie stark spüren Sie Druck oder Verantwortung?
Ich habe da einen wahrscheinlich ziemlich unhöflichen Zugang: Ich spüre keinen Druck, weil ich nie etwas versprochen habe, weil ich nur das machen und sagen kann, was ich bin und woran ich glaube. Wenn es um die Community geht, sage ich immer: „Seid nicht irritiert, wenn ich etwas anders mache, als ihr euch das erwartet hättet. Erwartet nichts von mir. Ich mache mein Ding.“ Ich versuche Erwartungshaltungen aus meinem Leben zu verbannen. Denn man wird zu 90 Prozent enttäuscht.
Einige Menschen reagieren sehr negativ auf Sie. Das sieht man in sozialen Netzwerken besonders deutlich. Verstehen Sie, dass Menschen sich von Ihnen und dem Verwischen der Geschlechtergrenzen bedroht fühlen?
Ich verstehe nicht, wie man sich mit etwas, das man nicht mag, auch nur eine Minute auseinandersetzen kann. Sowas mache ich nicht. Ich habe wirklich immer das Bedürfnis diesen Menschen für die Aufmerksamkeit zu danken. Denn sie reden über mich und ich werde zum Thema gemacht. Und im besten Fall wird darüber diskutiert, warum sie nicht mögen, was ich tue. Und wenn ich Glück habe, ist in dieser Runde jemand, der sagt: Was ist denn dein Problem? Aber es könnte mich nicht weniger tangieren, was Menschen über mich denken – wenn es um Negativität geht. Komplimente hört jeder gerne. Ich bin nicht beratungsresistent, ich nehme Kritik, aus der ich einen Benefit ziehen kann, offen und dankbar an. Aber wenn es einfach nur Verbaldurchfall ist, habe ich dafür keine Aufmerksamkeit.
Was bedeutet Identität für Sie?
Identität ist etwas unglaublich Wichtiges. Die Grundzüge der Identität sind manifestiert, aber dann gibt es einen Teil der Identität, der fließend sein sollte. Ich möchte zur besten Version meiner selbst werden. Deswegen kann ich mich nicht in dieses fertige Identitätskonzept festklammern lassen.
Sie haben viele Fans, die Kinder sind. Was sagen Sie einem Kind, das bei der Autogrammstunde fragt, ob Sie ein Bub oder ein Mädchen sind?
Erstmals denk ich mir: Oh, danke. Die Illusion funktioniert! Komischerweise werde ich das von kleinen Kiddies nie gefragt. Denen ist das meist klar. Entweder sie glauben, ich bin ein Junge in Mädchenkleidern oder sie glauben, ich bin ein Mädchen, das sich einen Bart aufmalt. Und wenn sie dann fragen, warum ich mir einen Bart aufmale, erkläre ich ihnen das. Dann fragen sie, ob das ist wie Fasching. Und ich sage; Ja, wie Fasching, aber das ganze Jahr.
Wird Tom Neuwirth eines Tages ein Comeback auf der Bühne feiern?
In der ersten Phase meiner Karriere konnte ich nicht mit der Aufmerksamkeit umgehen. Vielleicht kann ich in 20 Jahren auch ohne all dem auf der Bühne stehen. Obwohl ganz ohne Mascara wohl nicht. Aber ich weiß es nicht. Das ist meine Hintertür.
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