Das wäre geschichtlicher Nonsens
Sie hat an einer österreichischen Schule in Istanbul maturiert. In Innsbruck erlebte sie keinen Kultur- sondern einen Sprachschock. Alev Korun, umtriebige Menschenrechtssprecherin der Grünen, im Gespräch über Identitätspolitik, Arnold Schwarzenegger und ihren Erstkontakt mit der Fremdenpolizei. Interview: Gunnar Landsgesell
Sie haben in Istanbul an einer österreichischen Schule, dem katholischen St. Georgs-Kolleg, maturiert. Wie sind Sie dorthin gekommen?
Alev Korun: Das war ein Zufall, aber auch ein Wunsch meiner Eltern, dass ich Sprachen lerne. Damals hatte es zwei Aufnahmeprüfungen für ausländische Schulen gegeben. Je nach Punkteanzahl ist man in einer der Schulen aufgenommen worden. Ich hatte genügend Punkte für die österreichische Schule gehabt, die damals schon begehrt war. Die Schule ist auch bekannt für ihre strenge Erziehung.
Muss man vor Schulantritt bereits die deutsche Sprache beherrschen?
Überhaupt nicht, ich bin ohne Deutschkenntnisse mit elf Jahren in die Unterstufe gekommen. In der ersten Klasse hat man ungefähr 27 Wochenstunden Deutschunterricht, hat daneben ein paar Fächer wie Mathematik und Turnen. Aber das geht von Null auf Hundert.
Wissen Sie, wie es zur Gründung des St. Georgs-Kollegs, auf türkisch St. Georg Avusturya Lisesi ve Ticaret Okulu, kam?
Das ist eine katholische Ordensschule, mehr als hundert Jahre alt. Ausländische Schulen in der Türkei haben auch mit der Zeit des Osmanischen Reichs und der Öffnung zum Westen zu tun. Da wurden europäische Fremdsprachen wie französisch, deutsch, englisch gesprochen. Aus dieser Tradition stammt auch das St. Georgs-Kolleg.
War für Sie klar, dass Sie nach der Schule nach Deutschland oder Österreich gehen würden?
Am Anfang eigentlich nicht, da ging es um eine gute Ausbildung und die Fähigkeit, sich international verständigen zu können. Erst mit 18 Jahren wollte ich in die Welt hinaus, auf eigenen Beinen stehen.
Wurde Ihnen in dieser Schule auch ein bestimmtes Österreich-Bild präsentiert, vielleicht eine Art Mentalitätsgeschichte?
Eher weniger. Die Unterrichtssprache ist deutsch, die LehrerInnen sind zwar österreichisch, haben aber die Vorgabe, keinen Dialekt zu sprechen, weil auf vorarlbergisch oder tirolerisch könnten die SchülerInnen sicher nicht dem Unterricht folgen. Wir haben zwar ein bisschen über das Land erfahren, aber dass man uns Österreich erklärt hätte, das war eher nicht der Fall. 1980, zu meinem Schulantritt, hatten wir noch einige Ordensschwestern als Lehrerinnen. Die Begegnung mit diesen Frauen in ihren langen, schwarzen Gewändern war schon interessant, die meisten Kinder stammten ja nicht – mehr – aus christlichen Familien.
Interessant ist auch, dass es in Österreich keine türkische Schule gibt. Haben Sie eine Vermutung, warum?
Das stimmt, aber es gibt an vielen österreichischen Schulen Muttersprachenunterricht, man kann Türkisch als Freifach belegen. Und ich habe mehrere Anträge im Parlament gestellt, dass Türkisch so wie Serbisch oder Ungarisch auch als 2. lebende Fremdsprache zugelassen wird. Immer noch gibt es bei vielen Leuten das Missverständnis, dass die ganze Matura dann in türkischer Sprache abgehalten würde. Es geht aber um ein Fremdsprachenfach.
Es scheint so, als fühlten sich viele Österreicher in ihrer „Identität“ bedroht, wenn auch Türkisch als Fremdsprache zugelassen würde. Ist das nachvollziehbar?
Ich glaube, das hat viel mit der Geschichtsdarstellung in Österreich zu tun, auch wie die so genannten „Türkenkriege“ im Schulunterricht vorkommen. An Geschichte ist immer spannend, an wen wie erinnert wird. Obwohl es in Österreich auch Kriege gegen die Franzosen gegeben hat, kommen sie nicht so stark als „Feindbild“ im Geschichtsunterricht vor wie die Osmanen. Wenn ich an Kinder türkischsprachiger Eltern denke, die in Österreich auf die Welt kommen, hier aufwachsen und sich großteils als Hiesige begreifen, und dann mit dem Bild totaler Aggressoren aus den „Türkenkriegen“ konfrontiert werden, glaube ich schon, dass das etwas mit einem macht. Vielleicht fühlt man sich dann nicht mehr so zugehörig, vielleicht denkt man sich: Was, ein Teil meiner Identität soll ein „Aggressor“ sein? Da wären positive Impulse sicherlich wichtig.
Es gibt Politiker, die sehen eine der „größten Leistungen“ der österreichischen Identität in der Abwehr der zwei Türkenbelagerungen.
Ich glaube, die österreichische Identität ist nicht die gleiche wie vor fast 500 Jahren (lacht). Das wäre geschichtlicher Nonsens. Aber mit der Belagerung der Osmanen wurde natürlich Jahrhunderte lang Politik gemacht, auch als identitätsstiftendes Merkmal, um ein Wir-Gefühl zu entwickeln.
Funktioniert das heute noch?
Feindbilder verändern sich ja auch, grundsätzlich ist das aber eine Leerstelle, die beliebig gefüllt werden kann. Wer ein Feind ist, ist austauschbar. Nach den Terroranschlägen vom 11. September hat „der Islam“ das „Ausländer“-Thema teilweise ersetzt. Ausländer sind ja die gesamte Welt außer Österreich, insofern ist das ein sehr breiter und diffuser Begriff. Durch „die“ Muslime, was ja auch noch sehr homogenisierend ist, und „die“ Türken wurde das in der Feindbildpolitik ein Stück weit abgelöst.
Wie haben Sie Österreich erlebt, als Sie nach dem St. Georgs-Kolleg, ich glaube, nach Innsbruck gekommen sind? Haben Sie sich willkommen gefühlt?
Das war sehr lustig, ich bin von der Großstadt Istanbul direkt nach Innsbruck gezogen, das mir sehr schnuckelig vorkam. Auf der Straße habe ich dann natürlich kaum ein Wort Tirolerisch verstanden, obwohl ich Deutsch ganz gut beherrscht habe. Deshalb sage ich auch scherzhaft: Ich hatte keinen Kulturschock, sondern einen Sprachschock in Innsbruck. Ich dachte: Wenn das jetzt Deutsch sein soll, was habe ich dann acht Jahre lang gelernt? (lacht)
Wie war damals die Stimmung?
Auf der Uni war das toll, da waren viele internationale Studenten, auch viele Südtiroler. Aber auf der Fremdenpolizei hatte ich ein verheerendes Erlebnis, wo ich – atmosphärisch gesehen – erstmals in meinem Leben das Gefühl hatte, wie der letzte Dreck behandelt zu werden. Ich wurde zwar gesiezt, aber die Haltung war „Schleich di’“, „Warum bist du hier?“ Ich habe das überhaupt nicht verstanden in meiner Aufbruchsstimmung: Ich war 19, freute mich darauf, hier zu studieren, neue Leute, ein neues Land kennen zu lernen.
Wie haben sich die Beamten der Fremdenpolizei verhalten?
Damals gab es noch keine Visapflicht für türkische Staatsangehörige, deshalb bin ich einfach eingereist und am nächsten Tag zum Meldeamt gegangen und zur Fremdenpolizei für das Studentenvisum. Dort unterstellte man mir, ich sei illegal eingereist, ich hätte schon in Istanbul um ein Visum ansuchen müssen. Ich war völlig verdattert. Ich konnte ja Deutsch und habe ihnen gesagt: Bitte, ich habe mich erkundigt, man braucht kein Visum für die Einreise. Die Beamten haben mich zwei Stunden verhört, samt Protokoll, das ich unterschreiben musste.
Hätte sich diese Frage nicht leicht klären lassen?
Eigentlich schon, das Ganze war aber auch atmosphärisch interessant. Ich hatte zuerst den Antrag für das Studentenvisum einer Beamtin gegeben, die einen Kollegen hinzugezogen hat. Die beiden haben sich vor mir unterhalten. Sie sagt: Da gibt es ein Problem, die Dame will hier studieren, als er sie unterbricht und sagt: Lass mich raten, und sie kann kein Wort Deutsch. Sie erwiderte: Doch sie spricht sogar ziemlich gut Deutsch... Ich dachte mir in diesem Moment: Was soll das jetzt sein? Diese beiden Leute kennen mich noch gar nicht, warum haben sie etwas gegen mich? Sie haben mit mir doch keine schlechte Erfahrung gemacht, warum also behandeln sie mich so?
War das ein Impuls, sich politisch mit Themen wie Gleichheit und Diskriminierung zu beschäftigen?
Ja, definitiv. Erfahrungen wie diese habe ich auch bei meiner Arbeit für andere Menschen gemacht. Wer aus bestimmten Ländern kommt und gesellschaftlich „tiefer“ steht als Andere, kann schnell von solchen Erlebnissen berichten. Denn spannend am Thema der Diskriminierung ist, dass sie für andere Menschen fast unsichtbar ist. Wer das nicht erlebt hat und das etwa von einem Freund erzählt bekommt, fällt aus allen Wolken, weil er oder sie sich das nicht vorstellen kann. „Du übertreibst ja“ ist dann eine häufige Reaktion.
Was hat sich seither verändert auf den Ämtern, in der Gesellschaft? Gibt es so etwas wie eine Willkommenskultur?
Natürlich hat sich einiges verändert, auch auf den Ämtern, da muss man fair sein. Die Willkommenskultur ist aber vor allem ein Schlagwort. Der Integrationsminister spricht dauernd davon, tatsächlich verweigert man den Leuten aber die Einreise, wenn sie die Sprache nicht gut genug sprechen. Insgesamt ist Österreich aber sicherlich bunter geworden. Auffällig ist, dass die Ablehnung von Zuzug mittlerweile ethnisiert und kulturalisiert wird. Das „Argument“, die Leute kommen aus einer anderen Kultur, deshalb könnten sie sich hier nicht „integrieren“, höre ich oft.
Das sind Ansätze einer neuen Identitätspolitik, die in ganz Europa bemerkbar sind. Was antworten Sie?
Ich antworte, dass die Vranitzkys, Buseks und Klestils auch einmal fremd waren und heute selbstverständlich Österreicher sind. Und dass die Mirkovics und Öztürks aus den 1960ern heute großteils schon heimisch sind. Gleichzeitig gibt es viele österreichische Identitäten, denn nur eine einzige zu behaupten, das wäre ein Konstrukt. Wenn von „dem“ Österreicher die Rede ist, frage ich immer, ob der Logenbesitzer beim Opernball oder der Hackler aus Simmering gemeint ist. Es sind zwar beide Österreicher, aber sie haben ziemlich sicher nicht den gleichen Lebensstil.
Das Konzept der Identität scheint politisch ganz fruchtbar zu sein, paradoxerweise für eine Partei der simplen Lösungen. Wie kommt das?
Bei der Frage, was Identität ist, spielt immer eine große Rolle, wer nicht dazugehören soll. Identität wird zumeist über Ausschluss definiert. Die österreichische Identität findet ja auch gerne in Abgrenzung zur deutschen Identität statt. Wer an slowenischsprachige Kärntner denkt, an Burgenland-Kroaten, Wiener Tschechen oder an Vorarlberger, der weiß aber, wie vielfältig die österreichische Identität ist.
Nobelpreisträger Amartya Sen plädiert in seinem Buch „Die Identitätsfalle“ für die Vielheit der Identitäten, die wir in einer Gemeinschaft ständig einnehmen: durch Klasse, Geschlecht, Beruf, Sprache, Hobbies, etc. Sen warnt, dass Identität als reduktionistisches Konzept auch töten kann, Stichwort religiöser oder politischer Extremismus. Wie böse sind Identitäten?
Nicht grundsätzlich, Identitäten sind fließend. Sie werden böse, wenn sie totalitär sind, wenn die Forderung erhoben wird, man möge nur eine Identität haben. Wenn andere Identitäten als Feindbilder definiert werden. Das entweder/oder, das in vielen Köpfen besteht, entspricht ja nicht der Wirklichkeit. Bestimmte Migrantengruppen werden ja oft gefragt, zu welchem Land sie sich zugehörig fühlen. Ich habe noch nie gehört, dass Arnold Schwarzenegger gefragt wird: Fühlst du dich als Amerikaner oder Österreicher? Arnie ist ja unser Österreicher in Hollywood, der es zu etwas gebracht hat. Er wurde als Doppelstaatsbürger Gouverneur von Kalifornien und wird nicht gefragt, ob er das eine oder das andere ist.
Gibt es eigentlich so etwas wie eine Grüne Partei-Identität?
Ich glaube, auch hier gibt es mehrere grüne Identitäten. Die Grünen sind aus mehreren Basisbewegungen entstanden, der feministischen, der Umwelt- und Friedensbewegung, jener von Lesben und Schwulen und anderen. Sie bringen alle starke Werte mit und das Verbindende ist Selbstbestimmung und Respekt für gelebte Vielfalt.
Im Oktober wird in Wien gewählt, Aufregung gibt es über die Liste Turgay Taşkiran, die in der Presse und auch im ORF als türkische Liste bezeichnet wurde. Der Wiener Arzt, in Österreich geboren, möchte stärker Politik für Migranten machen. Wie stehen Sie zu diesem Projekt: ein positiver Ansatz und ein willkommener Konkurrent?
In einer Demokratie kann jeder eine politische Bewegung gründen. Migrant-Sein allein ist aber noch kein Programm. Was wäre die „migrantische“ Antwort auf die Klimaerwärmung; was die auf Flächenwidmung und Verkehrspolitik? In der Politik kommt man mit einer Ein-Thema-Bewegung nicht weit. Und unter Eingewanderten sind von ganz links bis reaktionär-antiliberal alle Haltungen vertreten, übrigens wie auch unter Nicht-Migranten. Daher wird die Liste meiner Einschätzung nach den Einzug nicht schaffen, aber Richtung FPÖ mobilisieren. Und dass der Spitzenkandidat sagt, man trete gegen Rassismus und Rechtsruck an, könne sich aber vorstellen, mit Strache zu koalieren, finde ich recht „originell“.
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