Der schlanke Staat taumelt
SONDERECKE. Die Hauptverantwortung für das Asylchaos trägt die ÖVP. um die Ecke gedacht mit Philipp Sonderegger
Für Gesetzgebung und Vollzug in Sachen Asyl ist der Bund zuständig. In Person von ÖVP-Innenministerin Johanna Mikl-Leitner. Die Schwarzen leiten das Innenministerium seit dem Jahr 2000. Mit Feuereifer machten sie sich an die Verschärfung des Fremdenrechts. Pro Jahr eine Novelle. Allerdings: 80.000 Flüchtlingen ist die Behörde heute logistisch nicht mehr gewachsen – im Gegensatz zu den 1990er Jahren. Das BMI verweist gerne auf die Länder. Tatsächlich haben sich diese in der Grundversorgungsvereinbarung zur Unterbringung verpflichtet. Doch es wurde auch geregelt, wem die Meta-Kompetenz zur Vorsorge gegen Engpässe obliegt: dem Bund. Gibt es in den Ländern nicht genügend Quartiere, ist wieder das BMI am Zug. Schließlich sollen AsylwerberInnen im Verfahren greifbar sein.
Die ÖVP stellt die Innenministerin, sechs von neun Landeshauptleuten (zwei der säumigen Länder sind rot regiert) und fast drei von vier BürgermeisterInnen (von denen viele tolle Arbeit leisten) in Österreich. Mit dieser Infrastruktur können die Bürgerlichen politische Projekte umsetzen – falls sie wollen. Ein funktionierendes staatliches Asylsystem steht aber gar nicht auf der Agenda der ÖVP. Sie setzt auf einen schlanken Staat:
Durch diverse Privatisierungen wird Betreuung ausgelagert und Gewinnorientierung als Steuerungsprinzip etabliert. Qualitätsstandards kommen unter Druck; soziale Konflikte nehmen zu. Spendenbasierte NGOs werden mit ihrem Knowhow aus dem Feld gedrängt, weil sie sich gegen diese Entwicklung wehren.
Die angebliche Föderalisierung der Kompetenzen schwächt das System bis zur Unsteuerbarkeit: Eigentlich wäre die Einbeziehung der Bevölkerung auf lokaler Ebene begrüßenswert, weil das deren Verständnis für die Materie stärkt. Doch ohne Plan endet alles in Kompetenz-Wirrwarr und Schuldzuweisungen. Die Lichtenfelsgasse trompetet, es handle sich um eine „katastrophenartige Ausnahmesituation“ und eine schier „übermenschliche Aufgabe“. Zeltstädte des Innenministeriums bebildern diesen Spin. Schon wird eine Diskussion um neuerliche Einschränkungen des Asylrechts angezogen. Immer weniger Verantwortung soll die Allgemeinheit für die Gewährleistung von Menschenrechten tragen.
Realpolitisch hängt die Unterbringung derzeit an den Gemeinden. BürgermeisterInnen fürchten sich zurecht davor, dass jede/r noch so unbegabte FPÖ-Gemeindrat/rätin die vergiftete Stimmung in Zugewinne ummünzen kann. Die Stimmung kommt nicht aus dem Nichts. Lange Jahre heulten ÖVP-PolitikerInnen mit den Wölfen und trugen zur Diskreditierung von Asylsuchenden bei.
Was uns derzeit als Asylpolitik geboten wird, ist keine reine Inkompetenz. Es ist das Ergebnis 15-jähriger Schwächung öffentlicher Verwaltung durch konservative „Effizienzsteigerung“ und „Bürokratieabbau“.
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