Der Fanatismus ist relativ neu
In Österreich wird viel über Flüchtlinge und „europäische Werte“ diskutiert, aber über die Gesellschaften, aus denen die Menschen kommen, weiß kaum jemand Bescheid. Wie haben die Menschen in Syrien gelebt? War Sex vor der Ehe und Freundschaft zwischen Männern und Frauen üblich? Heirateten Muslime und Christen? Ein Gespräch mit Mai A. und Nour S. über ein Leben vor dem Krieg. Interview: Gunnar Landsgesell, Alexander Pollak, Fotos: Karin Wasner, apo, Nour
Wir würden gern mehr über Ihre Sozialisation erfahren und auch etwas über den Alltag in Syrien. Würden Sie uns über sich und Ihre Familie erzählen?
Mai: Ich bin 29 Jahre alt und komme aus Dara’a im Süden Syriens, nahe der jordanischen Grenze. Ich habe Dolmetscherin für Englisch gelernt. Ich habe zwei Brüder und eine Schwester. Einer hat arabische Literatur studiert, meine jüngere Schwester hat eine Bibliotheksausbildung gemacht, meinem anderen Bruder fehlen noch zwei Prüfungen für den Abschluss seines Lehramtsstudiums für Geschichte. Wir wohnten in einer Wohnung mit drei Räumen plus Küche. Große Familien mit vielen Kindern wohnen in Häusern, aber verglichen damit sind wir eine kleine Familie. Oftmals haben Familien acht Kinder, und auch die Großeltern wohnen im Haus.
Hat die Familiengröße mit dem Einkommen und der sozialen Schicht zu tun?
Nour: Ich glaube, das hat mehr mit der Gegend zu tun, woher man kommt. In den Grenzregionen zu Jordanien und zum Irak haben die Leute mehr Kinder. In den großen Städten wie Damaskus, Aleppo, Homs eher nicht.
Wie sind Sie täglich in die Schule gekommen? Gab es in Syrien ein gut ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz?
Mai: Meine Schule war nahe bei unserer Wohnung. Aber wenn jemand weiter entfernt wohnt, kann man mit dem Bus fahren. Auto hatten wir keines. Da, wo ich herkomme, ist das eher unüblich. Autos sind teuer.
Nour: Es gibt viele Busse in Syrien, und wir haben auch diese kleinen Shuttle-Busse, so etwas wie Sammeltaxis. Das ist ein übliches Verkehrsmittel in Syrien. Die Privatschulen haben auch eigene Busse, die die Kinder abholen. Die meisten Syrer gehen aber auf öffentliche Schulen, da gibt es das nicht.
Erhält man an öffentlichen Schulen die gleiche gute Bildung?
Nour: Ja, das Bildungsniveau ist genauso hoch wie auf Privatschulen. Sie sind ein eher neues Phänomen, so wie private Universitäten. An der öffentlichen Uni zahlt man nur einen ganz geringen Betrag Studiengebühren, ein paar Dollar. 2005 wurden auch Privat-Unis legalisiert. Zugleich wurden auch die öffentlichen Unis anders reglementiert. Wenn man schlechtere Noten in der Schule hat, muss man mehr für den Uni-Antritt zahlen. Für die heutige Generation ist das eine echte Hürde. Nur 30 bis 40 Prozent schaffen es beim ersten Versuch an die Uni.
Mai: Ja, das waren wirklich harte Prüfungen. An einigen Colleges gab es nur ein Prozent der Studenten, die das Studium beim ersten Versuch abschlossen.
Nour: Ich wurde 1981 geboren, komme aus al-Bukamal an der Grenze zum Irak. Die Stadt ist, so wie Dara’a, auch eher konservativ, viele Menschen sind eher mit dem Irak loyal als mit Syrien. Das liegt auch daran, dass sie dort Verwandte haben. Mein Vater spricht auch sehr irakisch gefärbt. Die meisten Leute in al-Bukamal wohnten in Häusern, kaum Wohnungen. Ich selbst bin Atheist, komme aber aus einer sunnitischen Familie. Mein Großvater war mit zwei Frauen verheiratet, da gab es viele Onkel und Tanten. In dieser Gegend sind sehr, sehr große Familien häufig. Fünf bis sechs Kinder sind ganz normal. Ich habe nur zwei jüngere Schwestern.
Wie haben sich die Beziehungen zwischen den religiösen Gruppen verändert?
Nour: Mein Großvater war konservativ, dennoch war seine zweite Frau, also meine Großmutter, eine armenische Christin. Die Beziehungen zwischen den Religionsgruppen waren immer ziemlich entspannt. Der Fanatismus ist in Syrien, glaube ich, ein relativ neues Phänomen. Ich finde es auch interessant, dass von all meinen konservativen Verwandten niemand für den IS ist. Ich selbst bin 2003 in den Irak gefahren für den „Jihad“ – so hat der Staat das bezeichnet. Das war keine religiöse Mission, sondern unsere patriotische Pflicht gegen die „amerikanische Invasion“. So hat man uns das verkauft. Viele von denen, die damals teilgenommen haben, sind heute gegen den IS. Ich habe gerade einen Dokumentarfilm in der Türkei gemacht, wo ich einige Leute getroffen habe, die überraschenderweise pro IS sind.
Wie war das 2003 im Irak?
Nour: Ich wurde an der Grenze zum Irak festgehalten, mein Onkel hat mich dann dort abgeholt. In Syrien wurde man sehr stark durch eine anti-amerikanische Kultur sozialisiert.
Mai: Der „Kampf“ gegen die Amerikaner ist weniger eine religiöse als eine politische Sache.
Nour: Ja, das geht natürlich von der Regierung aus. Und auch der Mufti von Syrien verkündete, dass es die Pflicht aller Araber ist, im Irak gegen die Amerikaner zu kämpfen. Er war der einzige Mufti, der diese Meinung vertrat, natürlich ganz im Einklang mit der syrischen Führung.
Wie erfolgte der Schulunterricht, waren Mädchen und Buben getrennt?
Mai: In meiner Volksschule waren wir gemischt, die Mittelschule bzw. das Gymnasium gab es für Burschen und Mädchen.
Nour: In al-Bukamal gab es gemischte und getrennte Schulen. Es kommt immer auf die Gegend an, von der wir sprechen. Ich habe in Damaskus gearbeitet, dort gibt es beides. Meine Frau habe ich an der Uni kennengelernt, sie hat dort wie ich studiert. Als wir geheiratet haben, habe ich eine Wohnung in Homs gekauft, wo meine Frau herkommt. Damals war ich 27 Jahre alt. Die heutige Generation heiratet aber später, nicht vor 30 oder 35 Jahren. Das kann sich vorher niemand mehr leisten. Der Bräutigam muss ja für die gesamte Hochzeit zahlen.
Mussten Sie Ihre Eltern erst überzeugen?
Nour: Nein, meine Frau, die aus einer alawitischen Familie kommt, musste erst ihren Vater überzeugen. Wir hatten bereits zuvor eine Beziehung, auch wenn er dagegen war – weil wir Sunniten sind und ich zudem Atheist. Erst als meine Familie ihre Familie getroffen hatte, merkten sie, dass sie sich ohnehin ähnlich sind. Trotz solcher Vorbehalte gab es keine interkonfessionelle Gewalt in Syrien. Üblich war aber, dass Polizei, vor allem der Geheimdienst am Sonntag in der Nähe von Kirchen postiert war. Einfach, um den Leuten ein Gefühl der Sicherheit zu geben. So war das seit Anfang der 1980er Jahre, als die Muslimbruderschaft sich radikalisierte.
Mai: Ich komme aus einer christlichen Familie, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass in al Dara’a Polizei patrouillierte, wenn die Messe war. Ich glaube, auch das war in Syrien sehr unterschiedlich geregelt. Bei uns ist es auch nicht üblich, dass der Bräutigam die ganze Hochzeit zahlt, ich glaube, das ist eine muslimische Tradition und nicht so sehr eine arabische. Aber es kommt auf die Familien an, aus welcher Klasse man kommt, was man vereinbart und wie viel man sich leisten kann. Die Mehrheit der Bevölkerung gehörte der Mittelklasse an.
War Syrien vor dem Krieg eine sehr konservative Gesellschaft?
Nour: Nein. Der Libanon und Syrien sind sich nicht unähnlich, ich würde das als liberale Gesellschaften bezeichnen.
Mai: Vor dem Krieg war es üblich, dass viele Frauen gearbeitet haben. Nicht unbedingt, um die Familie finanziell zu unterstützen, sondern, so wie auch in meinem Fall, um ganz einfach unabhängig zu sein. Die Kinder hat man, so wie in Österreich auch, in den Kindergarten gebracht, oder sie waren bei den Großeltern oder man hat eine Nanny engagiert.
Waren Freundschaften zwischen Frauen und Männern üblich?
Mai: Doch, das war schon üblich in unserer Generation. Ich habe viele männliche Freunde. In Syrien sind die Brüder etwas dominant, wenn es darum geht, was die Mädchen machen. Es könnte also sein, dass ein Bruder etwas dagegen hat, wenn seine Schwester mit einem Burschen befreundet ist. In meinem Fall war das aber kein Thema, meine Brüder sind relaxed.
Wie ist das bei Ihnen, haben Sie Ihre Schwestern kontrolliert?
Nour: Nein, gar nicht. Ich war eher eifersüchtig. Meine beiden älteren Schwestern hatten Beziehungen, da war ich 16 und sie waren über 20 Jahre alt. Ich wollte einfach nicht, dass sie Sex haben, ich denke, das hat mit kultureller Prägung zu tun, die sicherlich maskulin ausgerichtet ist. Für Männer ist Sex vor der Ehe eher okay als für Frauen. Aber ich fände es heute als Vater auch nicht gut, wenn meine Tochter vor 18 Sex hätte. Ich würde aber nicht intervenieren.
Mai: Aus meiner Sicht war Sex vor der Ehe in Syrien selten. Wenn, dann hielt man das geheim. Weil sich das nicht gehört, weder für Männer noch für Frauen. Das ist so Tradition, egal ob bei Muslimen oder bei Christen.
Nour: Wobei wir jetzt immer über die Zeit vor dem Jahr 2012 sprechen. Bis dahin war Syrien verglichen mit anderen arabischen Staaten liberal. Danach, mit dem Krieg, wurde alles viel konservativer, viel religiöser. Es ist ein Phänomen, wie ein Land sich verändern kann. Der Assad-Clan hatte eigentlich keinen religiösen Zwist in die Gesellschaft verpflanzt. Mit dem Krieg begann vieles, was es an gesellschaftlichem Konsens gab, zu zerfallen. Nun ist die religiöse Angehörigkeit ein großes Thema. Bist du Alawit, Sunnit, Schiit, armenischer Christ? Für einige meiner Verwandten sind die Sunniten Feinde, die mit den Saudis und Katar paktieren und unser Land zerstört haben.
Das Syrien der Assads war eine Diktatur, die vergleichsweisen Wohlstand und Sicherheit bot, aber wohl nur eine gelenkte gesellschaftliche Partizipation. Wurde auf der Straße oder in den Familien über Politik gesprochen?
Nour: Ich habe einmal mit Freunden in einem leeren Lokal über Assad gesprochen, da setzten sich die einzigen Gäste, die am Nebentisch saßen, weiter weg. In Syrien hat man über alles geredet, Gott und die Welt, nur nicht über Politik. Das war tabu. Assad hatte einen gottgleichen Status. In der Schule mussten wir jeden Tag, so wie ein Morgengebet, sagen: Hafiz al-Assad, der Unsterbliche. Und zwar dreimal. Als er gestorben war und sein Sohn Baschar die Macht übernahm, blieb dieser Spruch unverändert. Hafiz war eben unsterblich. Der gesamte Spruch war ein Bekenntnis zur Baath-Partei, das komischerweise so lautete: Einheit, Freiheit, Sozialismus. Islam kam da nicht vor. Die Assads kommen als Alawiten ja von einer religiösen Minderheit, was hätte es ihm da genützt, die Religion ins Spiel zu bringen? Das sah man auch beim Aufstand der Muslimbrüder in Hama 1982. Assads Truppen verübten ein Massaker mit 30.000 Toten, 170.000 Menschen wurden verhaftet, ganze Familiennamen wurden aus den Telefonbüchern gelöscht. Auch bei den Freitagsgebeten war Syrien anders: Üblicherweise bezieht man sich auf die Aussprüche des Propheten, in Syrien aber auf die von Assad.
Gab es ein Spitzelwesen?
Nour: Natürlich gab es die Geheimdienste. Aber es war auch üblich, dass normale Menschen Berichte an Regierungsstellen schickten. Meinem Vater, der Universitätsprofessor war, ist das einmal passiert. Als er eines Tages zur Uni kam, warteten zwei 18-jährige Kids auf ihn und schlugen ihn, nur um ihn öffentlich zu demütigen. Er war eine Woche im Gefängnis und verließ danach das Land, arbeitete für Firmen in anderen Ländern wie Russland und Dubai.
Hat man Assad insgeheim gehasst?
Mai: Ich glaube schon.
Nour: Ich fürchte, dass Assad noch immer eine Mehrheit hinter sich hat. Würde es Wahlen geben, er erhielte wahrscheinlich 70 Prozent der Stimmen. Der Aufstand in Syrien entstand stärker aus ökonomischen Gründen und weniger gegen Assad selbst. Bis zu den Jahren 2007, 2008 bestand die wohlhabendste Schicht in Syrien vielleicht aus zehntausend Menschen. Sie kontrollierten 90 Prozent der Wirtschaft. Sie wurden entmachtet, und danach kontrollierte eine Handvoll Mitglieder des Assad-Clans den Reichtum. Sie transferierten das Geld in die Staatskassen, die sie kontrollierten.
Was passierte mit der Oberschicht?
Nour: Man enteignete sie praktisch, so wie meinen Onkel, und danach musste man für die neuen Eigentümer arbeiten. Mehr als die Hälfte der Gewinne gingen an die Mitglieder des Assad-Clans, z.B. an Rami Machluf, einen Cousin Assads. Er hatte keine offizielle Funktion im Staat, er besitzt eine der größten Firmen Syriens mit Monopolstatus. Wer handeln wollte, musste bezahlen. Eine große Korruption, viel größer, als sie vorher war.
Wie finanzierte sich der Staat in Syrien, wenn Bildung und andere soziale Dienste durch die Öffentlichkeit bereitgestellt wurden?
Nour: Syrien ist praktisch ein steuerfreier Staat. Man zahlte sehr wenig Steuern, kaum etwas für Einkommen, Strom oder das Gesundheitswesen. Die Staatsangehörigen besserten sich ihre Gehälter auf, indem sie sich schmieren ließen, egal ob bei der Polizei oder an der Uni. Die öffentlichen Spitäler boten keine besonders gute Versorgung, man musste lange auf Termine warten. Jordanien ist bekannt für seine guten privaten Spitäler. Andererseits hatte Syrien keine oder kaum Staatsschulden.
Mai: Ich selbst bin, wenn es notwendig war, in Privatkrankenhäuser gegangen. Bei uns sagte man scherzhaft, im öffentlichen Spital, da lassen sie dich sterben. Aber es gab wenig Armut in Syrien, so etwas wie in Ägypten, wo Menschen in Mistkübeln Nahrung suchen, gab es nicht.
Nour: Syrien war ein Land, in dem man günstig leben konnte. Bis Mitte der 1990erJahre wurden die meisten Güter auch im Land hergestellt. Es gab sogar ein syrisches Auto. Wir haben viel exportiert, Obst, Gemüse, Baumwolle, auch in die Golfemirate. Die Bauern erhielten unter Hafiz al-Assad jedes Jahr kostenlos das Saatgut. Verkauften sie ihre Ernte nicht, kaufte der Staat ihnen den Rest ab. Unter Baschar änderte sich das alles. Auch Filmemacher und Schauspieler wie ich erhielten vom Staat Unterstützung, dafür produzierten wir ein paar Sendungen für das Fernsehen. Das war eine Art Mindesteinkommen, das man auf diese Weise erhielt.
Wie funktionierte die Medienlandschaft? Fand sich dort die Meinungspluralität der Gesellschaft wieder, gab es Diskussionen auch über aktuelle Themen, egal ob über Kultur, Geschlechterfragen, Kriminalität? Wurde z. B. darüber diskutiert, wie sicher es für Frauen ist, in der Nacht allein auf die Straße zu gehen?
Mai: Das war kein Thema, dass Frauen nicht allein in der Nacht unterwegs wären. Natürlich, wenn es ein Verbrechen gab, wurde darüber auch berichtet.
Nour: Ich glaube, wir hatten in Syrien keine großen Genderprobleme, verglichen mit den arabischen Nachbarstaaten. Natürlich würde ich das nicht mit Europa vergleichen, das uns mentalitätsmäßig wahrscheinlich 50 Jahre voraus ist. Syrien begann erst in den großen Städten eine urbane Kultur zu entwickeln, doch es gibt viele Landstriche, die noch sehr traditionell geprägt sind. Die verbreitete Mentalität ist, dass Männer für ihre Familien aufkommen. Wenn ein Mann mit einer Frau ausgeht, würde der Mann nicht akzeptieren, dass die Frau bezahlt. Aber ich mag diese Kultur. Dass wir uns die Rechnung teilen, wenn ich mit einer Frau ausgehe, fände ich komisch. Aber natürlich, der Kapitalismus entwickelt einen starken Druck, dass Männer und Frauen gleichgestellt sind, eben auch auf so einer finanziellen Ebene.
In Österreich hat man vor 20 Jahren noch wenige Männer gesehen, die den Kinderwagen schieben. Das hat sich verändert. Würden syrische Männer dafür verlacht?
Mai: Nein, auch Väter schieben heute ihre Kinderwagen. Aber vor 20 Jahren war es nicht üblich, dass, wenn die Mutter unterwegs ist, der Vater zu Hause auf die Kinder aufpasst. Jetzt ist das, denke ich, schon anders. Viele Männer sind heute zweifelsohne weltoffener. Leider hat der Krieg viel zerstört.
Nour: In Jordanien gibt es immer wieder Fälle von sogenannten Ehrenmorden. Wenn ein Bruder seine Schwester tötet, weil sie mit einem Mann Sex hat, besagt das Gesetz, dass er nach einem halben Jahr freikommt. In Syrien gab es keine Ehrenmorde.
Mai: Doch, das gab es auch in Syrien. Sex mit Minderjährigen war gesetzlich verboten. So etwas kam vor, das habe ich mehrmals in der Zeitung gelesen.
Nour: Ich habe nie davon gehört. Vielleicht war das dort anders, wo du herkommst, aus der Grenzregion zu Jordanien? Aber es ist in Syrien kein verbreitetes Phänomen.
Welches Bild hatten Sie von Europa, bevor Sie hierhergekommen sind?
Mai: Wir haben hier Sicherheit und Frieden gesucht, das war das Wichtigste. Ich hatte eigentlich keine ausgeprägte Vorstellung von Europa. Aber jetzt, wo ich hier in Wien bin, finde ich die Leute sehr freundlich.
Nour: (lacht) Natürlich kann man Länder wie Österreich nicht mit den USA vergleichen, wo man extrem höflich miteinander umgeht. Ich habe dort teilweise studiert. Dort wird man selten gefragt, wo man herkommt, hier ist das fast immer die erste Frage – vielleicht auch einfach, weil meine Haut nicht ganz weiß ist. Aber Europa ist ganz anders als erwartet. Eigentlich finde ich, dass es Syrien recht ähnlich ist. Eine friedliche, gemischte Gesellschaft mit ein paar Leuten, die extremistische Meinungen vertreten. Ich habe an zwei öffentlichen Gesprächen in österreichischen Kleinstädten teilgenommen, wo die Gemeinden sich weigerten, Flüchtlinge aufzunehmen. Der Bürgermeister lud dann zum Dialog ein. Mir kam das vor, wie wenn ich an Verhören teilnehme. Da nahmen vor allem Pensionisten teil, die attackierten mich regelrecht. Es ging ständig um Christentum gegen Islam. Dafür, wie die Gesellschaft in Syrien war, interessierte sich eigentlich niemand.
Aus Ihrer Heimat gibt es leider keine guten Nachrichten, in al-Bukamal wütet der IS. Wie wird Ihr Leben weitergehen, haben Sie eine Vorstellung?
Mai: Ich liebe mein Land, ich hoffe, dass der Krieg beendet wird und ich sobald wie möglich zurückgehen kann. Ich werde die Erfahrungen, die ich hier mache, sicherlich mitnehmen. In Syrien habe ich für eine NGO gearbeitet, die sich für Flüchtlinge innerhalb Syriens engagiert hat. Ich selbst habe Englisch-Dolmetscherin studiert, das hilft mir jetzt vielleicht bei der Jobsuche.
Nour: Ich habe ein Kind, ich muss für die Zukunft planen. Ich möchte nicht, dass es das erlebt, was ich durchgemacht habe. Ich möchte, dass es in stabilen Verhältnissen aufwächst. Deshalb plane ich so, als würde ich für immer in Österreich bleiben. Falls sich die Situation in Syrien normalisiert, werde ich neu überlegen. Derzeit arbeite ich schon. Ich arbeite als Freelance-Filmemacher wie schon zuvor. Für eine Produktionsfirma in Berlin habe ich an einer Doku mitgearbeitet, habe auch für den ORF ein Projekt gepitcht. Aber die Jobs, die mir hier angeboten werden, haben immer mit Flüchtlingen zu tun (lacht). Das ist nicht genau das, was ich mir vorstelle.
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