Reden wir über eine Untergrenze
Wir brauchen eine Unter- statt eine Obergrenze: Denn die von manchen geforderte Rückkehr zur Flüchtlingsaufnahmezielgröße „Null“ würde Krisen verschärfen und Illegalisierung und Tod befördern. Kommentar: Alexander Pollak
Nicht mehr als 37.500 Asylanträge im Jahr 2016, sagt die Bundesregierung. Die einen bezeichnen das als fixe Obergrenze, die anderen als Richtwert. Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) will die Aufnahme von Asylsuchenden mittelfristig sogar „bis zum Nullpunkt“ herunterdrücken. Für Flüchtlinge bedeutet die Asylbegrenzungszahl, dass eine Art Wettlauf um die ersten 37.500 Plätze ausgerufen wurde. Vor allem jene, die in Österreich bereits Familienangehörige haben, müssen alles riskieren, um noch rechtzeitig die Grenze zu passieren.
Mittlerweile 60 Prozent Frauen und Kinder
Bereits in den vergangenen Wochen haben immer mehr Frauen und Kinder die gefährliche Überfahrt über das Meer gewagt. Waren im Juni 2015 noch zu mehr als 70 Prozent Männer auf dem Weg nach Europa, sind es inzwischen zu 60 Prozent Frauen und Kinder. Die Anzahl der tödlichen Unfälle auf dem Fluchtweg ist gestiegen. Doch das ist erst der Anfang. Mit der Nennung der Zahl 37.500 hat sich die österreichische Regierung selbst massiv unter Druck gesetzt, immer unmenschlicher gegenüber Menschen auf der Flucht vorzugehen, je näher die Asylantragszahlen an das Limit heranrücken.
Null-Quote verschärfte das Problem
Zu beachten ist, dass in die Asylzahlen nicht nur nachziehende Familienangehörige miteingerechnet werden, sondern auch jedes in Österreich geborene Kind von Flüchtlingen. Damit wird die absurde Situation geschaffen, dass nach Erreichen des Limits kein Kind mehr in Österreich zur Welt kommen dürfte, dessen Eltern Asylsuchende oder Asylberechtigte sind. Was ist also zu tun, um eine Spirale der Unmenschlichkeit zu verhindern? Zuallererst: Die Regierung darf sich von der selbst aufoktroyierten Begrenzungszahl nicht in Geiselhaft nehmen lassen. Die Politik muss dazu gedrängt werden, der Wahrung von Menschenrechten mehr Priorität zu geben als dem strikten Festhalten an einer Obergrenze. Darüber hinaus muss weiter mit Hochdruck an einem zumindest von Teilen der EU gemeinsam betriebenen Asylsystem gearbeitet werden, das die Asylantragstellung nicht nur in Europa, sondern auch bereits außerhalb ermöglicht. Menschen auf der Flucht muss endlich gesagt werden, wie sie legal, sicher und geordnet nach Europa kommen können, anstatt ihnen nur zu sagen, wie sie nicht kommen sollen und dürfen.
Darüber hinaus gilt es eine Integrationsinfrastruktur aufzubauen, die Neuankommende nicht nur in Quartieren verwahrt, sondern ihnen von Anfang an die Chance eröffnet, Fuß zu fassen und integraler Teil unserer Gesellschaft zu werden. Es braucht aber noch etwas: eine Untergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen. Das mag angesichts der derzeit populären Abschottungsbestrebungen vielleicht paradox klingen, aber solange so viele Menschen auf der Flucht sind, wäre eine Rückkehr zu einer Politik der Nullaufnahme fatal. Es war nämlich die von der EU und auch von Österreich proklamierte Aufnahmezielgröße „Null“, die in den vergangenen Jahren viele Probleme verschärft hat. Länder in Krisenregionen wurden im Stich gelassen, Flüchtlinge in die Hände skrupelloser Schlepper und auf tödliche Fluchtrouten gedrängt. Darüber hinaus hat die Nullzielgröße dafür gesorgt, dass keine ausreichende und vor allem keine nachhaltige Aufnahme- und Integrationsinfrastruktur geschaffen wurde. Eine Untergrenze bei der Flüchtlingsaufnahme würde mehr Sicherheit, Ordnung und Perspektiven bedeuten. Aufnahme und Integration wären besser plan- und finanzierbar. Und eine bessere Vorbereitung der Bevölkerung wäre möglich. Vor allem aber würde eine Untergrenze für ein Mindestmaß an Solidarität und Menschlichkeit sorgen.
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