Liberalisierung ist gar nicht möglich
SPOTLIGHT. Nikolai Statkevich trat 2010 als entschiedenster Gegner des weißrussischen Präsidenten Aleksander Lukaschenko an. Dann verschwand er für fünf Jahre im Arbeitslager. Die EU sollte Weißrusslands Oppositionelle nicht vergessen. Text: Bianca Said
Erst kürzlich hat die EU ihre Sanktionen gegen Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko auslaufen lassen. Der Mann, der seit 1994 mit eiserner Hand regiert, hat den Ruf, der letzte Diktator Europas zu sein. Im Oktober 2015 wurde Lukaschenko mit 83,5 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Selbst wenn Oppositionelle es wagen, bei den Wahlen anzutreten, müssten sie dafür 100.000 Stimmen im Land sammeln. Doch die Stimmung ist mittlerweile resignativ, viele Menschen wollen keinen Ärger, weil sie ohnehin nicht an eine Veränderung glauben. Nikolai Statkevich war einer der entschiedensten Herausforderer von Lukaschenko. Kurz vor den Wahlen 2010 rissen ihn Polizisten aus dem Auto, verprügelten ihn und steckten ihn – im Rahmen einer groß angelegten Verhaftungswelle – ins Gefängnis. Statkevich wurde zu sechs Jahren Arbeitslager verurteilt, weil er Proteste gegen den Präsidenten organisiert hatte. Im August 2015, zwei Monate vor jener Wahl, die die EU offenbar bewog, ihre Sanktionen zu beenden, ließ Lukaschenko den sozialdemokratischen Politiker der BSDP (NH) überraschend frei. Als letzten der Präsidentschaftskandidaten von damals, die verhaftet wurden. Ob es die Forderungen des Europäischen Parlaments und von Menschenrechtsorganisationen waren, die das bewirkten, oder doch die Sanktionen, wer könnte es sagen. Die Zeit und die Einschüchterungen haben jedenfalls für das Regime aus Minsk gearbeitet, die weißrussische Opposition ist heute marginalisiert. Während die EU ihre Sanktionen aufhebt, sollte sie deshalb Menschen wie Statkevich nicht vergessen. Der heute 59-Jährige, ein Ingenieur der Militärakademie in Minsk, hatte sich über die Jahre standhaft geweigert, ein Gnadengesuch an Lukaschenko zu richten. Alle paar Wochen durfte er mit seiner Tochter telefonieren, die in Deutschland lebt und sich ebenfalls für seine Freilassung eingesetzt hatte. Statkevich berichtet von Folter mit KGB-Methoden während seiner Haftzeit, aber auch davon, dass man ihm einen Englischkurs über Audiobooks genehmigt hatte. Wohl in der Hoffnung, dass er später das Land verlassen würde. 23 Tage lang war er in Hungerstreik, mehr als ein halbes Jahr lang soll er zwangsweise künstlich ernährt worden sein. Wie viele andere politische Häftlinge des Landes musste auch Statkevich schwere körperliche Arbeit verrichten, Holzfällen zum Beispiel. Auch als er sich einmal den Arm brach. Amnesty International berichtete damals, Statkevich sei einem Sägewerk der Strafkolonie Nr. 17 zugeteilt worden, später verlegte man ihn in das Gefängnis Nr. 4. Gesicherte Informationen drangen selten nach außen. Als die Gefängnisleitung von Suizidabsichten berichtete, musste Statkevichs Familie vermuten, dass damit vielleicht ein Mord verschleiert würde. NGOs wie das in Minsk ansässige Human Rights Center Viasna, zu Deutsch „Frühling“, haben mit ihrer demokratiepolitischen Arbeit einen schweren Stand. Viasna-Gründer Ales Bjaljazki wurde 2011 selbst zu 4,5 Jahren Arbeitslager verurteilt, offiziell wegen Steuerhinterziehung. Während die EU intensiv mit der „Flüchtlingskrise“ und den auseinanderdriftenden nationalstaatlichen Interessen beschäftigt ist, bleibt für die Ränder Europas nicht viel Aufmerksamkeit. Nikolai Statkevich warnt indes davor, die Regierung in Minsk auf dem Weg der Reformen zu sehen. Dort täusche man eine Liberalisierung vor, so Statkevich in einem Interview nach seiner Haftentlassung, obwohl das gar nicht möglich sei. Denn jede Liberalisierung würde bedeuten, dass sich das System Lukaschenko selbst zu Fall bringt.
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