Das Problem ist die Doppelmoral
Shereen El Feki ist eine britisch-ägyptische Journalistin und Forscherin, die sich eingehend mit dem Sexualleben in der arabischen Welt beschäftigt hat. Um die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen voranzutreiben, müsse sich die Gesellschaft viel mehr mit Männern beschäftigen, so die Autorin von „Sex und die Zitadelle“. Interview: Clara Akinyosoye
Sie haben das Sexualleben in der arabischen Welt erforscht. Welche Unterschiede lassen sich zwischen arabischer und westlicher Welt festmachen?
Es gibt viele Tabus und Restriktionen rund um Sexualität im arabischen Raum. Über Sexualität wird öffentlich nicht gesprochen, aber im privaten Raum reden die Menschen sehr wohl darüber. Frauen reden mit Frauen, und Männer reden mit Männern. Viele Menschen haben auch Sex, ohne verheiratet zu sein, obwohl Sex gesellschaftlich nur in der Ehe akzeptiert wird. Der größte Unterschied zwischen dem Sexualleben im Westen und in der arabischen Welt ist wohl, dass es im arabischen Raum eine viel größere Diskrepanz gibt zwischen dem, was öffentlich gesagt und vertreten wird, und dem, was privat gelebt wird.
Welche Rolle spielt dabei die Religion?
Islam, Christentum und Judentum predigen alle Keuschheit vor der Ehe. Die Grenzen, in denen Sexualität stattfinden darf, sind in der arabischen Welt eng. Wer Sex außerhalb der Ehe hat, bekommt Probleme – jedenfalls wenn es sich um einen homosexuellen Mann oder eine unverheiratete Frau handelt. Realität ist aber auch, dass sich die Gesellschaft blind stellt, wenn Männer außerehelichen Sex haben. Frauenwerden allerdings sehr genau kontrolliert. Diese Doppelmoral ist ein großes Problem. Aber der Islam ist nicht sexfeindlich.
Warum wird die Sexualität von Frauen so stark kontrolliert?
Ein zentraler Grund ist, dass Männer so unsicher sind. Sie haben Angst, dass sie ihre Frauen sexuell nicht befriedigen können und dadurch ihre Kontrolle und ihre Stellung verlieren.
Warum sind Männer unsicher? Im Islam werden Frauen als sexuell aktiver als Männer beschrieben. Es gibt einen interessanten Ausspruch von Ali, dem Schwiegersohn von Mohammed: Er sagte: „Gott kreierte zehn Leidenschaften, neun gab er Frauen und eine dem Mann.“ Seit der Entstehung des Islam wird die weibliche Sexualität als etwas sehr Starkes angesehen, mit dem Männer unter Anstrengung mithalten müssen. Dieses Verständnis zeigt deutlich, warum wir all diese Kontrollen der weiblichen Sexualität erleben. Das findet man auch in anderen Religionen und ist keine Besonderheit des Islam. Machthabende, auch religiöse Fundamentalisten, nutzen Sexualität – besonders weibliche Sexualität – oft als Unterdrückungswerkzeug. Dabei sind Muslime in der Vergangenheit viel toleranter und pragmatischer mit der Sexualität umgegangen.
Die arabische Welt stand der Sexualität früher aufgeschlossener gegenüber?
Noch zu Zeiten unserer Eltern und Großeltern gab es einen offeneren Umgang mit Sexualität. Aber die Ironie ist: Es ist erst tausend Jahre her, dass der Westen die östliche Sexualität als zu liberal und zu offen charakterisiert hat. Homosexualität war damals akzeptiert. Jetzt ist es der Westen, der sich als offen und den Osten als zu verschlossen beschreibt. Die Positionen haben sich um 180 Grad gedreht. Aber es ist derselbe Orientalismus, die gleiche Dämonisierung des Anderen. Das hat eine lange Geschichte. Überall, wo es Konflikte zwischen Gruppen gibt, wird die Sexualität der anderen Männer als Waffe gegen sie und als Grund dafür verwendet, sie auszuschließen. So wie rechte Parteien jetzt über den arabischen Mann reden, haben im Zuge der Bürgerrechtsbewegung weiße AmerikanerInnen über schwarze Amerikaner gesprochen. Auch da hat es geheißen, dass die Männer „unsere Frauen“ attackieren werden.
Seit den Ereignissen in der Silvesternacht in Köln wird viel über arabische Männer und ihr Verhältnis zu Frauen und Sexualität gesprochen. Wie schätzen Sie diese Ereignisse in Köln ein? Gibt es einen Zusammenhang zwischen einer rigiden Sexualmoral und solchen Übergriffen?
Da müssen wir vorher über etwas anderes sprechen: Wir wissen kaum etwas über die Sexualität von arabischen Männern. Wir haben zu wenig Forschung, viel weniger als vergleichsweise in westlichen Ländern. Viele Fragen der Sexualität sind mit Problemen wie Prostitution oder der Kontrolle von Sexualität durch Genitalbeschneidungen verbunden. Oft sind Frauen die Opfer und Männer die Täter. Daher fokussiert die Forschung auf Mädchen und Frauen und nicht auf Buben und Männer. Deshalb befragen wir gerade 9.600 Männer und Frauen in Ägypten, im Libanon, in den Palästinensergebieten und in Marokko. Wir schauen, was die Männer innerhalb und außerhalb ihres Schlafzimmers bewegt. Man kann das Sexualleben nicht verstehen, wenn man nicht versteht, was die Menschen im restlichen Leben bewegt. Diese Informationen sind sehr wichtig für die arabischen Länder, aber auch für außerhalb.
In welchem Zusammenhang steht das mit der Kölner Silvesternacht?
Die Sexualität arabischer Männer wird wegen der Ereignisse in Köln in einem besonders negativen Licht dargestellt. Das ist mitunter auch politisch motiviert. Es gibt leider die Tendenz, Menschen als anders und fremd darzustellen. Einige der Täter in Köln waren Nordafrikaner. Doch einige Wochen später war Karneval, und ich nehme an, dass es auch dort zu sexuellen Übergriffen von deutschen Männern gekommen ist. Wenn man jetzt sagen würde, dass Deutsche gewalttätig sind und es der Protestantismus ist, der sie dazu treibt, würden die Leute mit Recht sagen, dass das lächerlich ist. Eine solche Schlussfolgerung zu ziehen wäre purer Rassismus. Aber wegen den Vorfällen in Köln sagen viele, dass Araber grundsätzlich sexuelle Gewalttäter sind und es der Islam ist, der sie dazu bringt. Solche Schlüsse über Muslime zu ziehen wird als akzeptabel angesehen.
In Österreich ist es in den vergangenen Monaten zu Übergriffen auf Frauen und in einem Fall auch auf ein Kind gekommen. Die Täter waren oft Afghanen – meist betrunken. Wenn die Gesellschaft die Ursache für diese Taten in den Herkunftsländern der Täter sucht, ist das Rassismus?
Studien zeigen, dass es bei sexueller Gewalt keinen Unterschied macht, ob die Männer aus Mexiko, Ruanda, Asien oder Kroatien kommen oder welche Religion oder ethnischen Hintergrund sie haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie gewalttätig werden, steigt, wenn gewisse Faktoren zutreffen. Etwa wenn sie als Kind Gewalt erlebt haben oder mitbekommen haben, wie ihre Mutter von einem Mann misshandelt wurde. Wenn sie großer Gewalt ausgesetzt waren – etwa einem Bürgerkrieg – ist die Disposition für Gewalt noch mal größer. Wenn sie Alkohol oder Drogen nehmen, ist die Chance noch größer. Das kann man alles nicht 1:1 als Kausalzusammenhang sehen, aber das sind die Faktoren, die es wahrscheinlicher machen, dass Männer Frauen gegenüber Gewalt anwenden. Man muss verstehen, warum Gewalt passiert, um gegensteuern zu können. Deswegen ist die Forschung so wichtig.
Nachdem es in Schwimmbädern zu sexueller Belästigung durch Flüchtlinge gekommen ist, gibt es in Deutschland und Österreich nun Piktogramme, die vermitteln sollen, dass Frauen nicht belästigt werden dürfen.
Das macht wirklich keinen Sinn. Es ist eine Verschwendung von Energie und Ressourcen. Es ist ja nicht so, als ob sexuelle Belästigung in den arabischen Ländern gesellschaftlich akzeptiert wäre. Wenn ein Mann etwa in Ägypten dabei erwischt wird, wie er eine Frau in einem Schwimmbad begrapscht, bekommt er auch Probleme. Da ist das Bewusstsein für sexuelle Belästigung auf jeden Fall gestiegen.
In Österreich werden eintägige Wertekurse abgehalten, bei denen Flüchtlingen die österreichischen Werte auch in Bezug auf Geschlechterfragen nähergebracht werden sollen. Was halten Sie davon?
Ein paar Stunden in einem Kurs werden nicht das Verhalten von Menschen ändern, die ihr Leben lang den vorher genannten problematischen Faktoren ausgesetzt waren. Ich verstehe, dass die Regierung versucht, eine schnelle Lösung zu finden, aber sie ist nicht nachhaltig. Diese Kurse werden weder den Asylsuchenden noch der lokalen Bevölkerung helfen.
Wie könnte eine Gesellschaft ihre Vorstellungen von Gleichberechtigung von Mann und Frau besser vermitteln?
In der arabischen Region und auch in Afghanistan schlagen wir uns mit denselben Problemen herum wie die EuropäerInnen – mit sexualisierter und häuslicher Gewalt. Wir haben viele NGOs in arabischen Ländern, die gute, nachhaltige Arbeit mit Burschen und Männern leisten. Es gibt zum Beispiel das MenEngage Network, wo sich rund 800 NGOs weltweit vernetzen, die sich genau damit befassen, wie man Buben und Männer dazu bringen kann, Gleichberechtigung von Mann und Frau zu akzeptieren. Diese NGOs, die in den Heimatländern der Menschen arbeiten, verstehen den Kontext, aus dem die Menschen kommen. Sie entwickeln innovative Wege. Die Regierungen sollten sich mit diesen Organisationen in Verbindung setzen und mit ihnen arbeiten. Auch sollte man die MigrantInnen einbeziehen, die schon in Österreich sind. Das sind doch Leute, die schon herausgefunden haben, wie man die alte und die neue Kultur miteinander verbinden kann. Ich denke, diese Menschen können sehr nützlich sein.
Wenn man davon ausgeht, dass es auch Flüchtlinge gibt, die eine andere Form des Zusammenlebens zwischen Männern und Frauen gewohnt sind: Müssen wir uns dann im Umgang mit den Neuankömmlingen damit auseinandersetzen, dass wir in sexuell freizügigeren Gesellschaften leben?
Es gibt eine Tendenz, die arabische Welt zu homogenisieren, aber sie ist divers: Es gibt dort Männer und Frauen, die unverheiratet miteinander zusammenleben, es gibt Sex unter Männern, Sex unter Frauen, es gibt Transsexuelle, es gibt Prostitution. Es gibt all diese unterschiedlichen Formen von Sexualität, die man auch im Westen findet. In der arabischen Welt muss aber die Diskrepanz zwischen dem, was gesellschaftlich als erlaubt gilt und privat getan wird, überwunden werden. In Marokko wird zum Beispiel momentan darüber diskutiert, dass Sex außerhalb der Ehe entkriminalisiert werden soll. Und im Libanon wird diskutiert, sexuelle Handlungen zwischen Homosexuellen zu entkriminalisieren. Es gibt viel Bewegung im arabischen Raum. Wir bewegen uns nur langsam. Wissen Sie, was nützlich an dieser angestoßenen Debatte über arabische Männer ist?
Was denn?
Der Fokus liegt jetzt auf der Sexualität von arabischen Männern. Natürlich ist der Diskurs, der geführt wird, besorgniserregend, aber es lässt sich daraus auch Positives entwickeln. Es war immer schwer, Interesse für die Situation arabischer Männer und für ihr Sexualleben zu schüren. Doch mit der aktuellen Diskussion bekommen diejenigen Aufwind, die schon seit Langem sagen, dass es notwendig ist, sich mit den Männern zu beschäftigen, um Gleichberechtigung zu erzielen. Es gibt Interesse, es gibt Fördergelder.
Man könnte sagen, es gibt durch die Vorfälle gewissermaßen ein gesteigertes Bewusstsein für sexualisierte Gewalt. Das Gute im Schlechten – zumindest wenn es nicht bei einer Verengung auf Flüchtlinge bleibt.
Ja. Es bestand der Eindruck, dass es sexuelle Belästigung in Europa so nicht mehr gibt. Dass sich damit nur unsere Mütter oder Großmütter herumschlagen mussten, aber nicht mehr unsere Generation. Sexualisierte Gewalt ist aber immer noch aktuell. In den USA gibt es das Everyday Sexism Movement, das sehr deutlich macht, dass Sexismus und Belästigung alltäglich sind und nicht der Vergangenheit angehören. Vielleicht ist das in Europa bisher noch nicht genug artikuliert worden.
In Europa wird oft von universellen Menschenrechten gesprochen. Sie haben einmal gesagt, dass arabische Frauen nicht die Art von Frauenrechten wollen, wie „wir“ sie im Westen haben? Was will die arabische Emanzipationsbewegung erreichen?
In meinem Buch spreche ich nie über sexuelle Freiheit, weil der Begriff im westlichen Kontext eine ganz spezielle Konnotation hat, die nicht zwangsläufig mit Menschen, die in anderen Kulturen leben, vereinbar ist. Ich rede über sexuelle Rechte. Das ist das Recht, eine sichere, lustvolle, zufriedenstellende Sexualität frei von Gewalt, Diskriminierung und Zwang zu erleben. Das ist der grundsätzliche Anspruch. Was im arabischen Raum anders sein kann, ist, wie Frauen Lust definieren und empfinden. Ich habe viele Frauen getroffen, die sagen, dass sie nicht die Freiheit haben wollen, unverheiratet Sex zu haben. Sie lehnen das ab, weil sie gläubig sind – egal ob christlich, muslimisch oder jüdisch. Sexuelle Rechte zu haben, besteht für sie darin, dass ihre Jungfräulichkeit ihre Privatsache ist und nicht die Sache ihrer Familie. Auch homosexuelle Männer und Frauen sagten mir, dass sie nicht nach einem Coming-out streben, sondern nach der Freiheit, hinter verschlossenen Türen zu machen, was sie wollen. Eine Regenbogenparade passe nicht zu ihrer Kultur. Es ist sehr gefährlich zu glauben, dass der Westen eine Art sexuelles Nirwana gefunden hat und der Rest der Welt diesem Weg folgen muss.
Die britisch-ägyptische Autorin Shereen El Feki veröffentlichte 2013 ihr Buch „Sex and the Citadel – Intimate Life in a Changing World“.
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