Auf dem rechten Auge blind
CLARTEXT. Das Attentat eines Rechtsextremen in München erzeugt nicht so ein großes Echo wie der Terror. Clara Akinyosoye sagt es nicht durch die Blume. Eine Kolumne über Diversität und Migration, Illustration: Petja Dimitrova
Ein junger Mann geht in ein Einkaufszentrum in München und erschießt neun Menschen, größtenteils Jugendliche. Danach streitet er auf einem Parkdeck mit einem Anrainer, der ihn vom Balkon aus beschimpft. Die Bezeichnung „Scheiss Türken“ fällt – es sind die Worte des 18-jährigen Täters, der später als David S. identifiziert wird. Er ruft auch noch, dass er Deutscher ist. Bereits ein, zwei Tage nach dem Attentat ist klar, dass David S. über ein gefälschtes Facebook-Profil unter einem türkischen Namen, versucht hat, Leute ins Einkaufscenter zu locken. David S. tötete neun Menschen mit Migrationshintergrund auf den Tag genau fünf Jahre nachdem der Rechtsextremist Anders Breivik in Norwegen 77 Menschen das Leben nahm. Wie Medien schon bald nach der Tat berichteten, soll der 18-Jährige in der Schule Probleme mit TürkInnen, mit „AusländerInnen“ und Hass auf sie gehabt haben. Und trotzdem fiel das Wort Rechtsextremismus nachdem man wusste, dass David S. Wurzeln im Iran hat, nicht mehr. Als die Frankfurter Allgemeine Zeitung fünf Tage nach dem Attentat einen Bericht mit dem Titel „F.A.Z. exklusiv. Amokläufer von München war Rechtsextremist“ veröffentlichte, wurde er in meiner Facebook-Timeline vielfach geteilt und als neuer Aspekt in einer umfangreichen Berichterstattung präsentiert. Manchen fiel es wie Schuppen von den Augen: David S. war rechtsextrem. Welchen anderen Schluss hätte man aus den Fakten, die wir schon kannten, ziehen sollen? Warum fiel es so schwer die zahlreichen Hinweise darauf zu erkennen? Natürlich trägt auch die Tatsache, dass David S. Eltern aus dem Iran stammen, einiges dazu bei. Dass es auch unter MigrantInnen rechtsextremes Gedankengut gibt, ist für viele schwer zu begreifen. Das zeigt der Umgang mit diesem Massaker. Die Geschehnisse in München werden mitunter in einer Reihe mit den islamistischen Terrorakten in Paris, Brüssel und Nizza erwähnt. Und während nach diesen Anschlägen die Ursachen, Prävention und Sicherheitsfragen diskutiert werden, erzeugte der Anschlag in München weniger Echo. Medien und Politik müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, nach dem Attentat nicht die richtigen Fragen gestellt zu haben. Wo sind sie – die Diskussionsendungen über rechten Terror? Wo wird debattiert, was der Staat, die Zivilgesellschaft, LehrerInnen, Eltern und Medien gegen Rechtsextremismus tun müssen? Wer debattiert, wie Minderheiten vor rechtem Terror zu schützen sind? Wann wird Präventionsarbeit diskutiert, um die Radikalisierung gestrandeter junger Menschen zu verhindern? Die Opfer von David S. und ihre Angehörigen haben es verdient, dass wir diese Fragen stellen und aufhören, uns blind zu stellen.
Clara Akinyosoye ist freie Journalistin und Ex-Chefredakteurin von M-Media.
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