Müssen von dieser Neiddebatte weg
„Ein-Euro-Jobs“, Kürzung der Mindestsicherung und andere Symbolpolitik statt Inhalte. Die Politik hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, sagt Othmar Karas. Der ÖVP-Europapolitiker über Sozialneid, direkte Demokratie und den Sinn für die richtige Wortwahl. Interview: Kathrin Wimmer
Vor kurzem hat das österreichische Innenministerium einen „Leistungskatalog“ mit 32 gemeinnützigen Hilfstätigkeiten für AsylwerberInnen veröffentlicht. Aufgelistet sind Tätigkeiten wie Schneeräumung, Pflege von Parkanlagen oder Altenbetreuung. Der Stundenlohn ist noch nicht festgelegt und bewegt sich zwischen 2,50 und 5 Euro. Außenminister Kurz hat im Sommer verpflichtende „Ein-Euro-Jobs“ für arbeitslose Asylberechtigte gefordert. Was halten Sie von diesen Vorschlägen?
Ich verstehe die Diskussion darüber, dass jemand, der in Österreich oder in der Europäischen Union Asyl erhält, auch ein sichtbares Zeichen des Willens zur Integration durch eine Tätigkeit für das Gemeinwohl leisten soll. Eine gemeinnützige Tätigkeit darf aber nicht Ersatz für eine Arbeitstätigkeit sein. Arbeit für das Gemeinwohl darf kein Niedriglohnjob werden, damit keine Ungleichheiten am Arbeitsmarkt entstehen. Deshalb bin ich froh, wenn man die Tätigkeiten klar beschreibt. Die Höhe ist noch nicht geklärt, denn es handelt sich um keinen Arbeitsplatz. Ein Zivildiener kriegt 1,61 Euro und neben der Mindestsicherung darf man laut Gesetzgeber derzeit ungefähr 200 Euro dazuverdienen. Das heißt, wir haben eine Obergrenze und es geht um quasi- ehrenamtliche Tätigkeiten. Ich bin dafür, dass sich Flüchtlinge an Gemeinwohltätigkeiten beteiligen, solange es sich nicht um eine Zwangstätigkeit handelt. Ich würde mir auch wünschen, dass diese Fragen nicht von Bundesland zu Bundesland oder von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich entschieden werden, sondern wir zu gemeinsamen Grundprinzipien kommen. Solange es keine gemeinsamen Regeln gibt, wird es auch schwer sein, den europäischen Verteilungsschlüssel umzusetzen.
In Oberösterreich wurde im Sommer die Mindestsicherung von Asylberechtigten von 914 Euro auf 520 Euro gekürzt. Wie stehen Sie zu Kürzungen in diesem Bereich?
Egal ob Mindestsicherung oder Verteilungsschlüssel, ich wünsche mir gemeinsame europäische Grundprinzipien im Umgang mit Flüchtlingen und eine gemeinsame Migrationspolitik in der EU. Die Präsidenten der Hilfsorganisationen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrt haben vor kurzem einen gemeinsamen Brief an die Bundesregierung verfasst, den ich als Präsident des „Hilfswerk Österreich“ unterzeichnet habe. Wir treten dafür ein, dass die Kernelemente der bestehenden 15a Vereinbarung zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung unverändert bleiben. Jedem Menschen ist ein Mindestmaß an würdevoller Existenz zuzusichern. Menschen ohne Arbeit und Anspruch auf sozialversicherungsrechtliche Leistungen sollen krankenversichert sein. Es soll mit der Mindestsicherung dafür Sorge getragen werden, dass es zu keiner Verarmung kommt und die Wege zur Erwerbstätigkeit deutlich verbessert werden. Wir wollen als Gesellschaft dazu beitragen, dass niemand betteln muss und die Grundbedürfnisse des Lebens abgedeckt sind. Das heißt, Familien sollen nicht ihre Wohnung verlieren, weil sie nicht mehr leistbar ist. So lauten die Grundlagen der 15a Vereinbarung aus dem Jahr 2015, daran hat sich nichts verändert. Eine Rückkehr in die alte Logik von neun völlig verschiedenen Regelungen lehne ich ab. Das wäre ein großer sozialer Rückschritt. Ich spreche mich ganz klar für eine bundeseinheitliche Regelung aus und ich bin dafür, dass man sich um gemeinsame Grundprinzipien innerhalb der EU bemüht. Dass die 15a Vereinbarung mit Ende des Jahres auslaufen soll, macht mir große Sorgen. Wir müssen von dieser „Neiddebatte“ weg und hin zu einer sachlichen Diskussion kommen, die auf einem gemeinsamen Recht, auf gemeinsamen Werten und gemeinsamen Grundsätzen wie Fakten beruht.
Als Sie 2013 die Flüchtlinge in der Votivkirche besuchten, forderten Sie „europaweite, einheitliche Standards bei der Unterbringung und Grundversorgung“. Was hat sich seither verändert?
Wir haben in Europa leider zu wenig Gemeinschaftskompetenz und es gibt mehr Vorschläge als letztlich beschlossen wurde und mehr Beschlüsse, als umgesetzt wurden: wie zum Beispiel die Überarbeitung der Dublin-Regelung, einheitliche EU-Asylverfahren, Außengrenzschutz, Hilfe vor Ort, sowie auch der Verteilungsschlüssel. Wir sind zwar viel weiter als vor dem Jahr 2014, aber immer noch nicht weit genug. Ein „Zaun“ löst kein Problem, sondern bleibt Symbol für Sicherheit und Schutz. Nur die Lösung vor Ort und die Integration bei uns kann diese Herausforderung gerecht und menschlich bewältigen. Wir müssen innerhalb der EU mehr Gemeinsamkeiten entwickeln und in der Wortwahl bedächtig sein. Darum bin ich auch bei „Ein-Euro-Jobs“, „Kürzung“ oder „Zaun“ immer so vorsichtig. Die Wortwahl trägt nicht immer zur Lösung bei, sondern kann auch eine „Neiddebatte“ und das „Gegeneinanderausspielen“ verstärken. Das ist nicht mein politischer Anspruch. Wir müssen bereit sein, differenzierter zu argumentieren, uns grundsätzlicher der Thematik zu stellen, und dürfen nicht auf die tagespolitische Schlagzeile schielen.
Nach dem „Flüchtlings-Referendum“ in Ungarn, dem „Brexit“ in Großbritannien oder etwa auch der CETA-SPÖ-Parteimitgliederbefragung in Österreich: Welchen Einfluss können Ihrer Ansicht nach solche Volksbefragungen auf die Politik in der EU haben?
Diese Referenden wurden mit der nationalen Karte oder der Schuldzuweisung auf den Nachbarn begründet und schüren die Anti-EU-Stimmung. Sie stärken den Nationalismus und nicht die europäische Solidarität. Ich finde sie unverantwortlich, weil sie die Gemeinschaft schwächen und Feindbilder schaffen. Wir können nur dann Probleme lösen, wenn wir Verständnis füreinander entwickeln.
Was schlagen Sie vor, was sollte man dagegen tun?
Politik anders machen. An Lösungen arbeiten. Ich bin gegen das Referendum in Ungarn aufgetreten und andere haben behauptet, das sei direkte Demokratie. Es ist nicht demokratisch, wenn Viktor Orbán an einem Beschluss, dem Verteilungsschlüssel, teilnimmt, wo er zu den 4 von 28 gehört, die dagegen stimmen und dann ein Referendum macht, das ihm das Recht geben soll, den Beschluss nicht umsetzen zu müssen. In der Politik ist es wichtig, durch das eigene Handeln glaubwürdig zu sein, sonst verliert man an Vertrauen. Im Moment haben wir eine Glaubwürdigkeitskrise, weil zu vielen Politikern die Schlagzeilen von morgen wichtiger sind als eine nachhaltige Problemlösung. Das ist die Herausforderung für die europäische Demokratie.
Diese Vertrauenskrise hat auch mit einer populistischen Politik zu tun, die durch Verunsicherung statt Problemlösung Stimmen sammelt. Man könnte das auch als Symbolpolitik bezeichnen, was verstehen Sie unter dem Begriff?
Symbole allein lösen noch kein Problem. Symbole sind wichtig, aber sie sind kein Ersatz für notwendiges Handeln. Die Fakten, das Recht, die Werte und die Menschen müssen Grundlage des Handelns sein. Welche Lösungen ich anbiete, welche Maßnahmen ich setze, ist immer auch eine Frage des eigenen Gewissens. Ich würde nie das Gewissen gegen die Sache ausspielen. Wenn ich jeden Tag eine andere Wirklichkeit vorgaukle und immer nur weiß, wer schuld ist, anstatt zu wissen in welcher Form ich mitverantwortlich bin, habe ich längerfristig ein Problem.
Sie haben im Zusammenhang mit den EU-Türkei-Beitrittsverhandlungen von „verbaler Abrüstung“ gesprochen. Was haben Sie damit gemeint?
Ich habe damals gesagt, man soll nicht eine Provokation mit einer anderen beantworten. Die aktuellen Vorgänge in der Türkei schockieren mich zutiefst und können von allen Demokraten nur verurteilt werden. Der Angriff auf Demokratie, Freiheit und Menschenwürde ist auch ein klares Signal der Türkei, dass sie keine weiteren Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union will. Die Europäische Union muss Konsequenzen ziehen und darf nicht zur Tagesordnung übergehen. Die Türkei bewegt sich ständig von der Europäischen Union weg und überschreitet rote Linien. Wenn jemand mit der Todesstrafe zündelt, dann bricht er selbst die Gespräche für einen EUBeitritt ab. Dennoch bleibt die Türkei unser Nachbar. Und weil die Türkei Nachbar ist, weil wir eine gemeinsame Grenze und gemeinsame Interessen haben, müssen wir im Gespräch bleiben. Die Flüchtlings- und Migrationsströme zeigen, dass wir durch jeden Krisenherd, nah oder fern, mitbetroffen sind. Wir sollten daher nicht sagen, wir reden nicht mehr miteinander und suggerieren damit der Bevölkerung, dass die Probleme gelöst sind. Das ist einfach nicht ehrlich und auch nicht richtig. Nicht miteinander zu reden, löst kein Problem.
Und es wird „weitergezündelt“...
Die Frage ist: Wie gehen Politiker in Zeiten, wo alles komplexer wird und die Angst vor dem Tempo der Veränderung steigt, mit dem Ohnmachtsgefühl der Menschen um? Dieser Gedanke schwingt bei jeder Entscheidung mit. Auch bei der Bundespräsidentenwahl wählen wir nicht Hofer oder Van der Bellen, sondern wir wählen ein Amtsverständnis für den Bundespräsidenten der Republik Österreich. Dieser trägt als Staatsoberhaupt maßgeblich zur Rolle nach innen wie nach außen bei. Das ist der Grund, warum ich für Alexander Van der Bellen eintrete. Nicht weil ich immer seiner Meinung bin, sondern weil er zur Mitverantwortung Österreichs in Europa steht und ich gegen jeden auftrete, der mit der nationalen Karte gegen die europäische Solidarität argumentiert.
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