Die Scharia war schon immer flexibel
Ist die Scharia ein göttliches Gebot und deshalb nicht verhandelbar? Wie wichtig ist sie für MuslimInnen? Was regelt die Scharia überhaupt? Warum wird mit der Scharia Politik betrieben? Sind Staat und Religion untrennbar? Neun Fragen zu einem Thema, das oft zitiert wird und niemand kennt. Antworten von Karl Prenner, Professor für Islamwissenschaft an der Universität Graz. Illustration: P.M. Hoffmann
1. Zeugt jeglicher Bezug zur Scharia von radikalem Islamismus oder ist eine Differenzierung notwendig?
Eine Differenzierung ist notwendig, denn die Scharia, das göttliche Gesetz, ist ein Regelwerk, das den Anspruch hat, das gesamte Leben des Menschen, privat und öffentlich bis in die Politik hinein anhand der fünf Rechtskategorien zu erfassen: geboten, verboten, erlaubt, verpönt, erwünscht bzw. nach ihrer Rechtsgültigkeit: gültige ungültige Handlungen. Daher unterscheidet man zwei große Bereiche der Scharia:
- Die Ritualpflichten, d.h. die fünf Pflichtgebote gegenüber Gott, die fünf „Säulen“ des Islam: Glaubensbekenntnis, fünfmal tägliches Gebet, Ramadan-Fasten, Almosensteuer, Wallfahrt nach Mekka.
- Die zwischenmenschlichen Beziehungen bzw. sozialen Pflichten: dieser Bereich umfasst das Vertragsrecht und wird unterteilt in Unterkapitel: Eherecht, Kauf und Verkauf, Sklavenrecht, das Erbrecht und verwandte Bereiche; das Strafrecht (hadd-/ Grenz-Strafen). Vorschriften über die Sühneleistungen, die vor allem bei Verstößen gegen die Ritualgesetze zu erbringen sind, sowie die Strafen, mit denen eine Missachtung der Regeln der zwischenmenschlichen Beziehungen zu ahnden ist. Der erste Teil ist vielfach um die Vorschriften zum Dschihad erweitert, weiters um die Speiseverbote, rein/unrein und Schlachtvorschriften und die Gelübde.
Der Islam, wie auch das Judentum, sind stärker Religionen des Tuns, da eine Orthopraxie und damit auch rechtliche Aspekte im Mittelpunkt stehen.
Die Scharia ist das Produkt der vier Rechtsschulen, die die koranische Ethik mit Hilfe der Sunna (Brauch, Gepflogenheit) des Propheten kasuistisch ausgearbeitet haben und wurde etwa im 11. Jh. abgeschlossen. Daher heute der Versuch, die Scharia nicht als Gesetz, sondern als Richtschnur ethisch bestimmten Handelns und als Kanon grundlegender Maximen und Werte zu deuten, um den modernen Verhältnissen Rechnung zu tragen und nun die veränderten Orts- und Zeitverhältnisse zu berücksichtigen. Grundsätzlich geht die Mehrheit der MuslimInnen davon aus, dass die Ritualpflichten zeitunabhängig sind, während die zwischenmenschlichen Beziehungen sehr wohl den Zeitbedingungen unterliegen. Da jedoch ein Teil der „zwischenmenschlichen Beziehungen“ auch im Koran normativ geregelt ist (z.B. Erbrecht, Eherecht, Strafrecht usw.), wird die Behauptung, die zwischenmenschlichen Beziehungen seien generell nach orts- und zeitgebundenen Verhältnissen, d.h. vernunftgemäß und flexibel zu regeln, immer wieder in Frage gestellt. Wenn Muslime sagen, dass wir die Scharia nicht aufgeben können, dann wird vor allem der erste Teil gemeint, die Verpflichtungen gegenüber Gott, also die fünf „Säulen“ des Islam.
2. Ist die Scharia ein Gesetz?
Insgesamt ist die Scharia kein Gesetzeskodex, vielmehr handelt es sich aufgrund der vier Rechtschulen um ein unterschiedliches Meinungsspektrum zu den einzelnen Fragestellungen, wodurch auch eine Meinungspluralität begründet wird. Außerdem gibt es im sunnitischen Islam keine verbindliche Instanz, die entscheiden könnte, ob etwas noch islamisch ist oder bereits unislamisch. Der konfliktreiche Diskurs etwa um eine islamische Kleiderordnung und andere Fragestellungen zeigt dies anschaulich. Die Beantwortung der ersten Frage müsste also dahin geltend lauten, dass nicht jeglicher Bezug zur Scharia von einem radikalen Islamismus zeugt, außer man reduziert die Scharia auf das islamische Strafrecht, was sehr oft in den Medien geschieht. Gerade der politische Islam (Islamismus) fordert auch die Einführung des islamischen Strafrechts.
3. Wie kann die Scharia im Vergleich zu anderen Religionen eingeordnet werden? Gibt es auch so etwas wie eine jüdische, eine christliche „Scharia“?
Auch das Judentum kennt eine „Scharia“, nämlich die Halacha, die genauso wie die Scharia eine Weganleitung darstellt. Im Christentum fehlt etwas Vergleichbares, hier steht eine Person, nämlich Jesus im Mittelpunkt, der von sich sagte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“.
Scharia und Halacha haben vieles gemeinsam, das hängt damit zusammen, dass sich Muhammad und seine Gemeinde in Medina nach der jüdischen Halacha ausrichteten (Speisegebote, Fasten, Gebetszeiten u.a.), später aber dann vom Judentum abgrenzten und das Übernommene neu deuteten und ausrichteten. So wurde etwa das gemeinsame Fasten mit den Juden durch die Einführung des Ramadan-Fastens abgelöst.
4. Inwieweit sind gewisse religiöse Regeln vereinbar/unvereinbar mit einem demokratischen Rechtsstaat?
Dazu gibt es mehrere Positionen. Eine extreme Haltung finden wir heute bei vielen islamistischen und salafistischen Gruppierungen, die sämtliche demokratische Verhältnisse ablehnen, weil es nur einen Gesetzgeber gibt, und das ist Gott. Menschen können für Menschen keine Gesetze erlassen, daher lehnen sie Demokratie und Parlamentarismus als unislamisch ab. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass es nach islamischer Sicht keine Legislative gibt, da Gott als höchster Gesetzgeber die Normen, Werte und Gesetze des irdischen Lebens, also Gut und Böse, für alle Zeiten verbindlich festgelegt hat. Aufgabe der Menschen ist es, diese Normen zu interpretieren, um sie auf ihre konkreten Lebensumstände anwenden zu können. Das kann nach muslimischer Auffassung auch im Rahmen einer parlamentarischen Ordnung geschehen. D.h. Volkssouveränität kann es nach islamischer Lehre nur in einem beschränkten Sinn geben. Im Mittelpunkt steht das Prinzip der „Beratung“ (schura). Gegenseitige Beratung im Alltag und auch die Beratung des Herrschers. Schura wird heute als Grundlage einer spezifisch islamischen Demokratie angesehen. So kann die parlamentarische Mehrparteiendemokratie durchaus als eine zeitgemäße Form von schura gelten, allerdings muss sich diese im Rahmen des Islam bzw. der Scharia bewegen. Die Flexibilität der Scharia bzw. des islamischen Rechts und die damit zusammenhängende Meinungspluralität erlaubt es also durchaus Elemente einer demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung auch religiös zu begründen.
Intellektuelle und Reformer wiederum fordern heute eine zeitgerechte Koran- und Scharia-Interpretation als religiöse Ethik und nicht als Gesetz, sowie auch die Trennung von Staat und Religion. Nicht vereinbar mit einem demokratischen, in der Hauptsache säkularen Rechtsstaat, ist grundsätzlich die enge Verflechtung von Staat und Religion, wenn etwa der Islam als Staatsreligion fungiert; weiters das islamische Strafrecht, die Polygamie, denn der Koran erlaubt bis zu vier Ehefrauen. Aber auch die Koppelung der Menschenrechte an die Scharia, der Umgang mit nicht-muslimischen Minderheiten und diverse kultur- bzw. stammesbezogene Praktiken in Bezug auf Frau und Mann.
5. Wie sieht es diesbezüglich konkret in Österreich aus?
Auch Österreich, wo der Islam als Religionsgemeinschaft offiziell anerkannt ist, hat eine islamistische und salafistische Szene. Man kann aber davon ausgehen, dass die Mehrheit der Muslime in Österreich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie grundsätzlich nicht ablehnt. Das Problem für den gegenwärtigen Diskurs ergibt sich daraus, dass von den MigrantInnen grundsätzlich die Kultur der Herkunftsländer nicht mitgenommen werden kann. Mit dem Verlust der homogenen Gesellschaften und deren kultureller und religiöser Praxis ist aber auch die traditionelle Identität in Frage gestellt. Dies führt dann dazu, dass hier in Österreich/Europa sehr stark ein Riten-Islam sichtbar wird, der fast ausschließlich in einer rein religiösen Praxis gefunden wird, die auch nach außen hin sichtlich präsent ist. Die Definition als Muslim oder Muslima ist eben nicht mehr selbstverständlich, sondern muss neu gefunden werden – und erfolgt fast ausschließlich über die Religion, nicht mehr über die Kultur, denn Kulturelles wird als religiös geboten ausgegeben, wie etwa die Ablehnung der Koedukation u.a. Hierbei fungiert dann der Islam insgesamt als Alternativmodell zur westlichen Kultur. Das führt wiederum zu Spannungen, einerseits innerhalb der muslimischen Gemeinschaften, andererseits aber auch zur Mehrheitsgesellschaft. Wenn auch der Islam in Österreich öffentlich anerkannt ist, so ist er doch sehr plural und vielfältig, vor allem auch durch die ethnische Ausrichtung. Das neue Islamgesetz soll eine Beeinflussung der Moscheengemeinden durch das Ausland unterbinden, in diesem Zusammenhang gibt es auch die Bemühungen, den Islam an österreichische oder europäische Verhältnisse anzupassen. Die zu errichtende Islamische Theologie und die bereits bestehenden religionspädagogischen Einrichtungen in Wien und Innsbruck sollen dazu beitragen. Der umfassende Anspruch der Scharia wird, sofern diese nicht als ethischer und moralischer Wertekodex betrachtet wird, sondern als Gesetz, aber immer wieder Schwierigkeiten bereiten, den Islam in rechtsstaatliche parlamentarische Strukturen des Westens zu integrieren.
6. Die Scharia kann jede/r für sich praktizieren, solange das innerhalb der gesetzlichen Regelungen eines Landes erfolgt. Wie ist das aber mit Scharia-Gerichten, wie es sie z.B. in England gibt? Wenn ein Ehepaar mit Problemen zu einem Scharia-Gelehrten geht und dieser der Frau zu mehr Gehorsam rät? Ist die Beratung eines Scharia-Gelehrten vergleichbar mit der bei einem Priester?
Diese Problematik von Scharia-Gerichten gibt es, denn hier werden demokratischrechtsstaatliche Systeme zunehmends ausgehebelt. Man kann die Tätigkeit eines Scharia-Gelehrten nicht mit der eines Priesters vergleichen, da ein Scharia-Gelehrter einer juridischen Tätigkeit nachkommt, während ein Priester eher versucht, eine beratende Funktion als Seelsorger auszuüben. Daher wird es in Zukunft wichtig sein, dass die Imame in Europa ausgebildet werden und nicht nur vom Ausland importiert werden. Diese Beratungsfunktion der Imame gründet sodann nicht mehr auf dem traditionellen Schariarecht, sondern auf der Scharia als einem ethischen und moralischen Regelwerk, also auf einer Werteordnung; nur auf diese Weise können die veränderten Orts- und Zeitbedingungen, denen auch die Schariagesetzgebung unterworfen ist, adäquat berücksichtigt werden.
7. Muss die Scharia aus Glaubenssicht in ihrer Gesamtheit gelten oder darf sie hinterfragt und nur in Teilen praktiziert werden?
Die Scharia als juristisches System hat sich erst im Laufe der Zeit durch die vier Rechtsschulen herauskristallisiert und gilt daher, gerade was den zwischenmenschlichen Bereich anbelangt, als Menschenwerk. Von den über 6200 Koranversen bringen etwa nur 80 Verse juristische Aussagen (geboten, verboten usw.). Ansonsten spricht der Koran von allgemeinen Direktiven und Richtlinien. Heute versucht man daher die Scharia in den historischen Kontext zu stellen und nicht als Gesetz sondern als ethisches, moralisches und theologisches Regelwerk zu interpretieren, ausgenommen die fünf kultischen Pflichten der Muslime. Grundsätzlich ist zu differenzieren zwischen der Scharia-Gesetzgebung, wie sie im Laufe der Jahrhunderte angewandt wurde und den Veränderungen, die ab der Kolonialzeit einsetzten. Denn das islamische Recht insgesamt und die Scharia im Speziellen sind keine starren monolithischen, sondern flexible Größen, die auch in den Jahrhunderten islamischer Geschichte flexibel gehandhabt wurden. So hat es schon immer eine gewisse Trennung zwischen staatlichen und religiösen Angelegenheiten gegeben; das Motto der Einheit von „Staat und Religion“ ist erst in der Kolonialzeit aufgekommen und sodann rückprojiziert worden. Außerdem ist gerade auch das islamische Strafrecht gegenüber der heutigen Situation in dieser Form kaum angewandt worden, es ist so kasuistisch ausformuliert worden, dass es eben nicht zur Anwendung kam.
8. Warum wird mit der Scharia Politik gemacht?
Die „verpolitisierte Scharia“ ist ein modernes Phänomen, denn traditionellerweise waren hierfür eben die Religionsgelehrten und nicht der Staat zuständig. Trotzdem ist eine vollständige Trennung zwischen Staat und Religion/Islam, also ein säkulares System, kaum vorstellbar in Staaten, in denen der Islam Staatsreligion ist. Daher der Diskurs, wieweit die Scharia eine öffentliche Ordnung oder bloß eine individuelle Lebensführung angibt.
Scharia als ein „nicht zu hinterfragendes Recht“ findet sich vor allem bei politischen und salafistischen Gruppierungen der Gegenwart, die die Einbettung in den Zeitkontext ablehnen und von einer wörtlichen Interpretation der Quellen ausgehen. Ich verweise nochmals darauf, dass der zweite Teil der Scharia, die zwischenmenschlichen Beziehungen, heute grundsätzlich als eine wandelbare Größe angesehen wird, daher hat neben Tunesien auch Marokko ein modernes, den heutigen Erfordernissen entsprechendes Familienrecht. Und überhaupt haben sämtliche islamische Staaten das traditionelle Familienrecht modernen Verhältnissen angepasst, freilich oft nur in der Theorie und noch nicht in der praktischen Handhabung.
9. In welcher Form kann die Scharia in der österreichischen Gesellschaft eine relevante, positive Rolle spielen?
Ich denke eben nicht als Gesetz, sondern als ethisches und moralisches Wertesystem, das unter Beachtung der veränderten Zeit- und Ortsbedingungen, d.h. der konkreten Lebensbedingungen der muslimischen Gesellschaften in Europa dann durchaus auch wieder stärker konkret normiert werden kann. Denn die traditionelle Scharia-Gesetzgebung entspricht ja den Bedingungen einer gewissen Zeit. Oft wird hierbei auf den traditionellen bosnischen Islam verwiesen, der sich durch eine vergeistigte Auslegung der Religionsquellen von einer Gesetzes- zu einer Gesinnungsreligion entwickelt hat. Mit dieser ethisch-moralischen Ausrichtung wurde ein Anschluss an die europäische Denk- und Lebensweise ermöglicht.
ZUR PERSON Karl Prenner ist seit 1997 Professor für Islamwissenschaft mit Schwerpunkt Koranforschung am Institut für Religionswissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz. Er hat ein Studium der Fachtheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität sowie Studien am Institut für Orientalistik (Studienrichtung Arabistik) und Judaistik an der Universität Wien absolviert.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo