Das ist Verhandlungssache
Die Scharia ist kein bürgerliches Gesetzbuch. Liberale Theologen interpretieren sie liberal, fundamentalistische fundamentalistisch. Die Scharia ist Ausdruck der offenen Struktur des Islam. Kommentar: Lamya Kaddor
„Scharia“ ist ein Schreckenswort. Dabei ist es eines der am meisten – unbewusst und bewusst – missverstandenen Worte in den Debatten über den Islam. Islamfeinde nutzen den Begriff, um die Religion als unmenschlich darzustellen, indem sie ihn als Chiffre für brutale Körperstrafen feilbieten. Islamistische Fundamentalisten missbrauchen ihn, um Gläubige einzuschüchtern, um Macht über sie zu erlangen oder selbige zu bewahren. Angesichts dieser Prägung des Begriffs durch moderne Extremisten verknüpfen Laien damit häufig mittelalterliche Vorstellungen.
Zugleich religiöses und staatliches Recht
Was aber ist die Scharia überhaupt? Der Begriff stammt aus dem Arabischen und bezeichnet zunächst einmal nichts anderes als einen Weg, der in lebensfeindlicher Wüste zu lebensspendender Wasserquelle führt. Im übertragenen theologischen Sinn führt er folglich zu Gott. Dem Glauben der Muslime nach ist das irdische Leben eine Prüfung. Wer sich richtig verhält, gelangt nach dem Tod zu Gott ins Paradies. Scharia ist somit nichts anderes als der Sammelbegriff für sämtliche göttliche Gebote. Wie kann man einem gläubigen Menschen das wegnehmen wollen?
Ein Problem ist nun: die Scharia ist kein bürgerliches Gesetzbuch. Sie ist nicht festgeschrieben. Es sind weitgehend leere Seiten, die permanent mit Inhalt gefüllt werden müssen. Die Scharia ist Ausdruck der offenen Struktur des Islam ohne offizielle Hierarchien, ohne Oberhaupt. Die Manifestierung der Scharia ist Verhandlungssache von Theologen. Liberale Theologen füllen die Seiten liberal, fundamentalistische fundamentalistisch. Nicht die Scharia per se ist daher problematisch, sondern diejenigen, die sie für andere verbindlich mit Inhalten füllen wollen.
Ein weiteres Problem: Da man in der Theorie traditionell nicht zwischen der Gemeinschaft aller Muslime und Musliminnen und dem Staat unterscheidet, ist die Scharia religiöses und staatliches Recht zugleich. Das passt mit heutigen Vorstellungen in einem säkularen Rechtsstaat nicht zusammen. Selbst islamische Länder haben damit Schwierigkeiten: Fast alle verfügen daher über ein kodifiziertes, vom Staat erstelltes Rechtssystem aus Zivil- und Strafrecht, während die Scharia nur noch bei Familienangelegenheiten herangezogen wird. Das liegt daran, dass der Koran – entgegen der verbreiteten Vorstellung – kaum konkrete gesetzliche Regelungen für den Alltag der Menschen enthält.
Auf einem derart schwimmenden Fundament lässt sich kein Staat bauen. Eine Verhandlungssache kann auch nicht Grundlage für das Handeln in einem freiheitlich säkularen Rechtsstaat sein. Etwas, das nicht klar definiert werden kann, kann nicht offiziell anerkannt werden.
Aber: Muslim/innen und Bürger/innen solcher Staaten brauchen auch keine offizielle Scharia. Gott will den Schutz der Grundrechte des Menschen. Das macht der Koran an vielen Stellen deutlich: keine Willkür, keine Übertreibungen, keine Ungerechtigkeiten. Scharia schließt mithin das Recht auf Leben und Besitz unabhängig von Alter und Geschlecht, das Recht auf persönliche Freiheit, auf Schutz der Schwachen ein. Genau diesen Schutz garantiert heute ein Rechtsstaat. Brutale Körperstrafen, wie sie auf der arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert als Drohung nötig waren, um das Volk zu disziplinieren, haben sich erübrigt. Und realiter wollen Muslime und Musliminnen auch keine irgendwie geartete offizielle Scharia – abgesehen von Fundamentalisten oder Einwanderern, in deren Herkunftsländer etwa Scharia-Gerichte üblich sind. Muslime wollen nur eines: in Ruhe und ohne sich erklären zu müssen ihren Glauben leben. Denn so bewegt sich ihr Leben längst entlang der Scharia.
ZUR PERSON: Lamya Kaddor wurde 1978 im westfälischen Ahlen als Tochter syrischer Einwanderer geboren. Sie studierte Arabistik und Islamwissenschaft, Allgemeine Erziehungswissenschaft und Komparatistik an der Universität Münster und bildete Islamische ReligionslehrerInnen aus. Sie hielt Lehraufträge an mehreren Universitäten. Zudem unterrichtet sie Islamische Religion an der Schule. Kaddor ist Autorin mehrerer Bücher, zuletzt: „Die Zerreißprobe – Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht“, das 2016 im rowohlt Verlag erschien. Zuvor, u.a.: „Zum Töten bereit. Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen“ (2015). „So fremd und doch so nah. Juden und Muslime in Deutschland“ (2013). „Muslimisch, weiblich, deutsch - Mein Leben fur einen zeitgemäßen Islam, 2010.
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