Berliner Musterkind
Vom „Hort der Gewalt“ zur Vorzeigeschule. Wie die ehemalige Rütli-Schule in Berlin-Neukölln einen Wandel vollzog und heute als schulisches Integrationsbeispiel gilt, weiß Direktorin Cordula Heckmann.
Text: Milena Österreicher
„Schule ist Zukunft.“, sagt Cordula Heckmann in den Telefonhörer während im Hintergrund die Computertasten klappern. Heckmann ist beschäftigt. Sehr beschäftigt, seitdem sie 2009 die Leitung der „1. Gemeinschaftsschule Berlin, Bezirk Neukölln“ übernahm.
Es war keine gewöhnliche Schule, derer sie sich annahm.
Drei Jahre zuvor, im Frühjahr 2006, sorgte ein Brief der damaligen Rütli-Schule deutschlandweit für Aufsehen. Darin wandten sich MitarbeiterInnen der Schule an den Berliner Senat und meldeten untragbare Zustände: „Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen, Anweisungen werden ignoriert.“
Und: „Türen werden eingetreten, Papierkörbe als Fußbälle missbraucht, Knallkörper gezündet und Bilderrahmen von den Flurwänden gerissen.“ Einige Lehrkräfte seien nur mehr mit dem Handy in bestimmte Klassen gegangen, um jederzeit per Telefon Hilfe holen zu können.
Der Aufschrei sorgte für Schlagzeilen, von „Deutschlands schlimmster Schule“ und einem „Hort der Gewalt und des Integrationsversagens“ war zu lesen. Mehr als 80 Prozent der SchülerInnen waren nicht deutscher Herkunft. Der Aufschrei wurde auch vom damaligen SPD-Bezirksbürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowsky, gehört. Er berief eine ExpertInnenrunde ein. Christina Rau, die Ehefrau des früheren deutschen Bundespräsidenten, übernahm die Schirmherrschaft. Das Land Berlin stellte 32 Millionen für die Verbesserung der Schulsituation bereit.
Rütli neu – mit SozialarbeiterInnen
Heute wird der vormals Rütli-Schule genannte Campus als Vorzeigemodell gefeiert. Wie kam es zum Wandel? Die
Rütli-Schule alt wird noch im selben Jahr in ihrer alten Form aufgelöst. Stattdessen entsteht der „Campus Rütli – CR2“ mit Kindergarten, Volksschule und weiterführender Gesamtschule sowie Jugendamt und Gesundheitsdienst am Gelände. Cordula Heckmann übernimmt die Schul- und Campus-Leitung.
„Unser Leitbild ist: Kein Kind, kein Jugendlicher darf verloren gehen.“, sagt die Direktorin heute. Die Kinder und Jugendlichen müssten in den Mittelpunkt gestellt werden.
Die durchgehende Bildungsbiografie sei wichtig, meint Heckmann, viel zu oft würden Kinder aus bildungsfernen Familien beim Übergang von Volksschule zu weiterführenden Schulen verloren gehen. SozialarbeiterInnen, die Türkisch und Arabisch sprechen, helfen anfangs mit.
Bei Streit etwa werden die betroffenen SchülerInnen in einen eigenen Sozialarbeiterraum geschickt, wo mehrere PädagogInnen gemeinsam eine Lösung suchen.
2011 kommt die Oberstufe zur bisherigen Schulform dazu, 2014 maturieren die ersten SchülerInnen. Viele von ihnen als Erste in ihrer Familie, die mit Matura ihre Schullaufbahn abschließen. Einmal im Monat setzen sich die LeiterInnen der Schule, der benachbarten Sozialeinrichtungen und des Bezirks sowie der Stadt zusammen und feilen an neuen Ideen und Projekten.
Für Heckmann sind mehrere Punkte für den Erfolg des Campus Rütli entscheidend. Zum einen die Struktur der Gemeinschafts- und Ganztagsschule. Die Schülerinnen und Schüler der ersten, zweiten und dritten sowie die der vierten, fünften und sechsten Klasse der Grundschule werden jahrgangsübergreifend unterrichtet und lernen so im Verband von- und miteinander.
Zudem ist die Palette der angebotenen Aktivitäten im Rahmen der Ganztagsbetreuung groß und vielfältig: Es gibt Boxkurse, eine Theatergruppe, die vom Berliner Maxim-Gorki-Theater unterstützt wird, und Musikklassen. „Wir knüpfen damit an den Stärken der Schüler an.“, beschreibt Heckmann das Konzept.
Gearbeitet wird in kleinen Gruppen, reiner Frontalunterricht wird vermieden. Wertschätzung sei wichtig, das hätten viele der Kinder bisher in ihrer Schullaufbahn nicht erlebt. Auch architektonisch hat sich einiges verändert. Eine Mensa wurde gebaut, Klassen für die naturwissenschaftlichen Fächer ausgestattet, die Grünflächen erweitert. „Räume sind immer auch eine Wertschätzung der Menschen, die darin leben und arbeiten.“, sagt Heckmann.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt darin, die Eltern einzubeziehen. Väter und Mütter haben auf dem Campus unter anderem einen eigenen Ort bekommen, das Elterncafé.
Zweimal wöchentlich gibt es ein Elternfrühstück. Bei den informellen Treffen werden brennende Fragen besprochen: „Wie funktioniert das deutsche Schulsystem?“, „Wie lese ich ein Zeugnis? Was ist dabei wichtig?“, „Wie klärt man sein Kind auf?“ oder „Was mache ich, wenn mein Kind Drogen nimmt?“. Oft werden dazu auch ExpertInnen von Vereinen, vom Jugendamt oder von der Polizei eingeladen. Ein harter Kern von 15 bis 20 Eltern komme wöchentlich, sagt Heckmann, an manchen Tagen seien es bis zu hundert Personen.
Auch Hausbesuche der Lehrkräfte sind keine Seltenheit. Nach der Anmeldung des Kindes bekommen die Eltern bereits den ersten Besuch der PädagogInnen. Zum ersten Kennenlernen und um Vertrauen zu schaffen. Das sei zeitaufwändig, aber beide Seiten erlebten es meist als Erleichterung. Dies erfordere natürlich auch außerordentlich engagierte LehrerInnen, berichtet Heckmann. „Ich sage BewerberInnen immer ehrlich, dass man bei uns mehr arbeiten muss als an anderen Schulen.“
Mehr Sprachen, mehr Chancen
Von separaten Deutschförderklassen bis zu zwei Jahren, wie sie derzeit in Österreich geplant sind, hält Cordula Heckmann wenig. So fände kein kultureller Austausch statt und die Kinder könnten nicht vom „Sprachbad“ profitieren, das heißt nicht „nebenbei“ in direktem Kontakt die Sprache erwerben. Die Willkommensklassen in Berlin, in denen die SchülerInnen Basiskenntnisse erwerben, hält sie hingegen für sinnvoll. In der deutschen Hauptstadt müssen minderjährige Geflüchtete diese besuchen, soweit sie noch nicht ausreichend Deutsch für den Regelunterricht beherrschen.
Nach spätestens einem Jahr wechseln sie in reguläre Klassen. Derzeit schaffen laut Bildungssenat mehr als die Hälfte der Kinder im Grundschulalter den Wechsel nach weniger als sechs Monaten.
Religion und Herkunft spielten im Schulalltag am Campus Rütli keine große Rolle, erzählt die Direktorin. „Ich habe sie alle: Kurden, Muslime, Christen, Jesiden, … Schüler aus Ägypten, Spanien, Kanada, der Türkei oder Österreich. Wenn ich über den Schulhof gehe, merke ich nicht, wer woher kommt.“ Gruppenbildung nach Herkunft oder Religion sieht Heckmann an ihrer Schule nicht. Ein bis zwei Stunden soziales Lernen täglich im Rahmen der Ganztagsbetreuung sowie eine Klassenratsstunde wöchentlich in jeder Klasse, in der die SchülerInnen über Probleme sprechen und Regeln für den Klassenverband gemeinsam aufstellen können, sind eine der Maßnahmen, mit denen das Miteinander gestärkt werden soll.
„Es gibt eine Kultur des Hinsehens und dementsprechend die Bereitschaft in offene Diskussion zu gehen.“ Zur Kopftuchdebatte meint Heckmann: „Das Kopftuch gehört für uns zum Alltag. So viele verschiedene Kopftücher es gibt, so viele Motivationen gibt es auch eines zu tragen.“
Mehrsprachigkeit wird am Campus Rütli gefördert. Für etwa die Hälfte der Schüle
rInnen der unteren Klassen ist Deutsch ihre Muttersprache, die andere Hälfte spricht Arabisch, Türkisch, Schwedisch, Italienisch und Englisch. Seit acht Jahren arbeitet der Campus mit der Volkshochschule Neukölln zusammen. Dort können die SchülerInnen Türkisch- und Arabisch-Kurse besuchen und eine Prüfung ablegen, die es ihnen ermöglicht ihre Familiensprache als zweite Fremdsprache für die Oberstufe anerkennen zu lassen.
Schule gestaltet Gesellschaft
Durch die soziale Zusammensetzung der Rütli-Schülerschaft bekommt die Schule jährlich 100.000 Euro von einem Bonusprogramm für Schulen, an denen mindestens die Hälfte der SchülerInnen aus armen Verhältnissen stammt. Geld sei für eine bessere Bildung notwendig, aber am Geld allein läge der Erfolg nicht, meint Heckmann. Andere Schulen mit dieser SchülerInnenzusammensetzung wären ähnlich ausgestattet. Doch alle müssten für den Erfolg zusammenarbeiten: Schulleitung, Lehrkräfte, SchülerInnen, Eltern sowie der Bezirk. Und es brauche viel Engagement und Einsatz von allen Beteiligten.
Rund 870 SchülerInnen besuchen derzeit den Campus Rütli.
Ein Großteil von ihnen kommt aus sozial schwachen Familien. Sie können sich das Schulmaterial nicht leisten, kommen oft aus einem bildungsfernen Umfeld. Um die 80 Prozent der Jugendlichen haben einen Migrationshintergrund, so wie damals 2016, als der Brandbrief verschickt wurde. Jedoch ist langsam ein Wandel merkbar. Der Bezirk Neukölln erlebt eine Gentrifizierung: Immer mehr Szenelokale und Biosupermärkte ziehen ein. Die Mieten steigen. Das verändert auch die Zusammensetzung der BewohnerInnen des Bezirks.
In den unteren Klassen merke man schon eine stärkere Durchmischung, erzählt Heckmann. Bei der ersten Klasse waren es zuletzt etwa 60 Prozent SchülerInnen mit Migrationshintergrund. Eine „50:50-Mischung“ fände sie ideal. Der Campus Rütli ist auch für bildungsnahe Familien interessant geworden. Die Anmeldungen übersteigen mittlerweile die Anzahl der freien Plätze. Die Zahl der SchulabbrecherInnen ist von zwanzig Prozent im Brennpunkt-Jahr 2006 auf unter zehn Prozent geschrumpft.
„Schule ist ein Ort, wo Gesellschaft gestaltet wird. Wir können Wege für ein Miteinander legen.“, beschreibt die Campus-Leiterin. „Die Politiker sprechen oft vom gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wo können die jungen Menschen den lernen, wenn nicht hier in der Schule?“
Milena Österreicher arbeitet als freie Journalistin und unterrichtet Deutsch als Fremdsprache. Sie übersetzt aus dem Spanischen ins Deutsche. Sie hat Publizistik und Kommunikationswissenschaft sowie Transkulturelle Kommunikation in Wien und Madrid studiert. www.milenaoesterreicher.com
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